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POESIEGESPRÄCH: LULJETA LLESHANAKU

Kleine Zickzacks und der Sinn fürs Vollendete

Luljeta Lleshanakus Werk ist geprägt durch ihre Jugend in einer stalinistischen Diktatur. Jahrzehntelang war sie abgeschottet von internationalen Einflüssen und erfand sich eine eigene Tradition, der sie bis heute folgt. Im Gespräch mit ihrer Übersetzerin Andrea Grill.

Andrea Grill: Luljeta, wir hatten eigentlich geplant, dieses Gespräch im Berliner Haus für Poesie zu führen, gemeinsam an einem Tisch sitzend. Jetzt müssen wir schriftlich miteinander „sprechen“, wie einst, als die Welt noch groß war und die Menschen einander Briefe schrieben, wenn sie über große Distanzen miteinander kommunizieren wollten. Mich erinnert unsere jetzige Situation an meine Kindheit, als ich sehr sehr gerne reisen hätte wollen, aber kein Geld hatte und überhaupt noch zu klein dafür war; ich hatte damals einige Freunde in Frankreich und Deutschland, die ich niemals getroffen hatte, aber mit denen ich Briefe austauschte, in denen wir uns unser tägliches Leben erzählten. Wie geht es dir jetzt, in dieser Zeit der Begrenzungen? Ich habe den Eindruck, diejenigen, die normalerweise immer zu Hause arbeiten, wie die Dichter*innen, tun sich momentan schwerer mit den Einschränkungen als diejenigen, für die das Arbeiten zuhause eine Ausnahme ist, obwohl sie – wie ich selbst – vielleicht manchmal davon geträumt haben, endlich einmal einen Monat lang das Haus nicht verlassen zu müssen und in dieser Zeit ungestört einen Gedichtband zu vollenden. Wie erlebst du das?

Luljeta LLeshanaku: Ich hatte mich wirklich sehr auf den Besuch in Berlin gefreut. Es ist eine Stadt, für die ich besondere Sympathie empfinde, schon der Name gefällt mir so gut. Diese Chemie mit gewissen Städten ist unerklärlich, ähnlich wie die Chemie zwischen Menschen: Vielleicht ist es ihre Aura, ihr Temperament, es kann aber auch der Zustand sein, in dem du dich befindest, könnte also schlicht eine Projektion von dir auf sie sein. Ich denke, in unserer Zeit findet man so eine Neugierde und den Wunsch, die Welt entdecken zu wollen, wie du sie beschreibst, nur mehr selten. Heute haben wir fremde Städte meist bereits virtuell besucht, bevor wir sie tatsächlich mit unseren Füßen betreten, gleichzeitig hat uns die Globalisierung allen einen ähnlichen Lebensstil auferlegt. Das ist vielleicht der Grund, warum uns Fremde, wenn wir ihnen zum ersten Mal begegnen, so vertraut vorkommen, als wären wir miteinander aufgewachsen. Es gibt nicht mehr viel Neues miteinander auszutauschen, ein Teil der Überraschung ist bereits a priori konsumiert worden.

Andererseits können wir dank der den Globus umspannenden Technologie wenigstens virtuell im „Haus für Poesie“ sein, und dank der Technologie ist die Isolation, in der wir uns befinden, weniger schrecklich. Mir fällt sie eigentlich sowieso leicht, denn ich habe in gewisser Weise die letzten zehn Jahre schon in einer Art Quarantäne gelebt. Wegen meiner großen Arbeitsbelastung, aber auch aus dem Bedürfnis heraus, allein zu sein, sind meine sozialen Beziehungen mit der Zeit stark abgemagert; so sehr, dass ich mir lächerlich und ausgesetzt vorkomme, wenn ich meine „Quarantäne“ verlasse, überempfindlich, ich brauche dann Zeit, um wieder ein Gleichgewicht mit der Welt zu finden.
Diese Wochen der Quarantäne verbringe ich mit meiner Mutter in meiner Wohnung in Tirana, der andere Teil der Familie ist in New York. Abgesehen von der fortwährenden Sorge um meine Lieben, kann ich jetzt einiges tun, für das ich schon lange keine Zeit mehr gehabt habe: Ich habe sauber gemacht, Byrek mit Gemüse gebacken, schwedische Folkmusik gehört und Zeit mit meiner Mutter verbracht, die 83 Jahre alt ist. Sie erzählt immer dieselben Geschichten; für sie sind sie wichtig. Ich habe einige klassische Filme gesehen, wie „Limelight“ von Chaplin, einen Film, den ich vor dreißig Jahren das letzte Mal gesehen hatte, und er gab mir das bittere Gefühl, dass wir seit den 50er Jahren, in denen der Film gedreht wurde, etwas Essentielles verloren haben. Dann habe ich wieder geputzt, aufgeräumt, habe vieles weggeworfen, kistenweise Briefe, Zeitungen, Kleidungsstücke, Accessoires, Geschirr, technische Geräte, und dabei darüber nachgedacht, wie sehr wir Opfer der Konsumgesellschaft sind: Wie viel Energie, Geld, Zeit, Nerven wir dem Materiellen widmen, dem Unnötigen oder Nicht-Essentiellen, einfach aus dem Bedürfnis dazuzugehören, oder so zu sein „wie alle anderen“. Es hat mir leid getan, als ich das alles im Müll gesehen habe; ein großer Teil meines Lebens ist so verloren gegangen.

Aber lass uns über dich sprechen, Andrea. In Wien, wo du lebst, spielt sich normalerweise ein großer Teil des Lebens in der Öffentlichkeit ab, auf der Straße. Wien kann ich mir ohne Museen, Oper, Kaffeehäuser und Restaurants, Straßenbahnen nicht vorstellen, ohne diese soziale Dynamik, die dir das eigene zuhause wie aus zweiter Hand erscheinen lässt. Wie geht es dir, wie erlebst du diese Quarantänezeit?

A.G.: Ich bin momentan gar nicht in Wien. Ich bin in der Schweiz, in Bern, wo ich mich zufällig befunden habe, als die Grenze zwischen Österreich und der Schweiz geschlossen wurde; ich unterrichtete dort an der Uni. Als Österreicherin hätte ich zwar noch nach Hause zurückkehren dürfen, aber es wäre kompliziert gewesen, weil alle Flug- und Zugverbindungen unterbrochen sind, mir war es lieber, momentan nicht zu reisen und einfach zu bleiben, wo ich bin. Außerdem hätte ich mich in Österreich verpflichten müssen, vierzehn Tage lang zuhause zu bleiben, also Quarantäne hard-core. Die wollte ich, nicht zuletzt meinem vierjährigen Sohn zuliebe, vermeiden. Glücklicherweise ist er hier zusammen mit mir. In der Schweiz scheint die Atmosphäre auch etwas leichter, positiver als in Österreich. Die Regierung spricht hier anders. Wir verbringen viel Zeit in der Natur, gehen zum Fluss, spielen mit Steinen, gehen zu einem kleinen See und suchen am Abend Fledermäuse. Wir betrachten die hohen schneeweißen Bergspitzen am Horizont, die Sonne.
Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust darauf, Wien in der Quarantäne zu sehen. Eine Stadt ohne Menschen ist eine kranke Stadt. Eine Stadt besteht ja aus den Menschen, die in ihr leben. Alles, was Städte schön macht, ist derzeit verboten. Musik, Theater, Feste mit vielen Leuten. In so einer Zeit haben diejenigen Glück, die auf dem Land wohnen.

Luljeta, du sagtest vorhin, die Quarantäne käme dir vor, wie eine Fortsetzung deines Lebens der letzten zehn Jahre. Aber da hattest du dir diesen Lebensstil selbst gewählt, warst dazu nicht von der Regierung verpflichtet, auf die zu vertrauen wir jetzt verpflichtet sind. Vertrauen durch Verpflichtung erreichen zu wollen, ist eine schwierige, eigentlich absurde Angelegenheit. Mir fällt das Vertrauen in die österreichische Regierung beispielsweise momentan ziemlich schwer, ihre Reden wirken auf mich wie Propaganda, ihre Reden haben den Menschen Angst eingejagt. Von heute auf morgen erhielt die Polizei die Macht, dir zu sagen, wo du gehen und stehen darfst, und dir hohe Strafen aufzubrummen für etwas, das bis vor wenigen Wochen zur Basisfreiheit der Menschen gehörte, wie zum Beispiel, in einem Park auf dem Rasen zu sitzen. Bei mir ist die Angst vor einer Diktatur des Gesundsein-Müssens derzeit größer als die vor dem Virus. Vielleicht ist das falsch, aber so fühle ich mich. Was sagst du, die du deine Kindheit in einer Diktatur verbracht hast, dazu? Empfindest du meine Gedanken als übertrieben?

L.L.: Du hast das gut erklärt, Andrea. Eine Geldstrafe ist aber noch gar nichts; in Albanien geht der Premierminister persönlich auf die Straße und versucht, alte Leute handgreiflich dazu zu bringen, sofort wieder nach Hause zu gehen, als ob sie Kinder wären. Da möchte ich sagen: “Thank you, but no thank you!” Danke, dass ihr euch so um meine Gesundheit sorgt, aber ich wäre dankbar, wenn ihr eine gewisse Distanz vor mir als Bürgerin wahren und meine Würde respektieren würdet.
In Albanien waren die Maßnahmen extremer als wo-dann-auch, so sehr, dass sie womöglich gegenteilige Auswirkungen gehabt haben könnten. Die Maßnahmen zeugen von der Panik der Regierung und werden von einer gehörigen Dosis gesellschaftlichen Zweifels begleitet und dem Gefühl, manipuliert zu werden, denke ich. Im Übrigen ist die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse nicht etwas, das innerhalb eines Tages entsteht, nicht einmal angesichts eines Naturunglücks, sondern etwas, das sich die Regierenden über längere Zeit hin verdienen müssten; in Albanien lässt diese Glaubwürdigkeit sehr zu wünschen übrig.
Eine Dosis Skepsis muss alle Isolierungsmaßnahmen auf der ganzen Welt begleiten. Nicht einmal diejenigen, die sie beschließen, glauben daran, sie tun das einfach, um den Leuten die Eigenverantwortung abzunehmen. Mich erinnern sie sehr an die Sicherheitsinstruktionen, die die Stewardessen im Flugzeug geben, eine Performance, die beide Teile, sowohl die Stewardessen als auch die Passagiere, als Formalität ansehen.
Aber während ich die politischen Maßnahmen bis zu einem gewissen Grad verstehe, beunruhigt mich die kollektive Indoktrinierung: die Leichtigkeit, mit der die Menschen alles, was ihnen nützlich scheint, als Tatsache annehmen. Der Konsum von Tabakwaren ist heutzutage, wie mir scheint, beispielsweise beinahe eher ein moralisches Problem als ein gesundheitliches. Raucher betrachtet man mittlerweile fast als Serienmörder, während das Rauchen aber eine individuelle Entscheidung für ein gewisses Risiko darstellt. Und es waren dieselben Menschen, die das Rauchen moralisch verdammen, die wie wild online Nikotin kauften, sobald irgendwo ein einziges Mal gesagt wurde, Raucher seien vor dem Coronavirus sicher. Oder … während wir fanatisch Kalorien zählen – als Folge der Propaganda einer ganzen Diätindustrie – sind wir nicht fähig, den furchtbaren Schaden zu kapieren, den der tägliche Stress in unser Leben bringt, den Schaden, den der zeitgenössische Lebensstil mit sich bringt. Weil wir in unserer Argumentation blind geworden sind, sind wir leichte Beute für jegliche Propaganda, bis hin zum Selbstmord.

Andrea, du bist außer Schriftstellerin auch Biologin, ich bin neugierig, inwieweit das deine Interpretation der gegenwärtigen Situation beeinflusst, die für die meisten von uns unbekannt, angsterregend und surreal ist?

A.G.: Ich glaube, dass viele Leute jetzt zum ersten Mal verstanden haben, was „exponentielles Wachstum“ bedeutet, während es für mich als Wissenschaftlerin, die sich mit der Entwicklung von Population von Organismen im zeitlichen Verlauf auseinandergesetzt hat, etwas ganz Gewöhnliches ist. Wie Brot und Butter, wenn ich das so sagen darf; also in fast jedem Kurs, den ich an der Universität unterrichtet habe, war auch das exponentielle Wachstum Thema. Und obwohl Viren keine Organismen im eigentlichen Sinn sind, also keine Lebewesen, verhalten sie sich doch ähnlich wie Organismen, ähnlich wie Parasiten. Ich habe während meiner Forschungstätigkeit DNA, RNA sequenziert, habe PCRs gemacht, das heißt auch die Begriffe, die nun vermehrt auf der Oberfläche der Medien herumtreiben, sind mir vertrauter. Andererseits betrachte ich als Biologin die Welt mit den Augen nicht-menschlicher Organismen, ich versuche, mir vorzustellen, wie Schmetterlinge, Mäuse, Vögel, Bäume, Flechten leben. Wie sind sie mit den anderen Organismen in ihrer Umgebung verbunden? Das ist meine Arbeit als Ökologin. Ich versuche, manchmal, wie eine Mücke zu denken, nicht wie ein Mensch.
Aus diesen Gründen versetzt mich das derzeit vielbesprochene Virus nicht in Panik, erscheint mir nicht sonderlich angsterregend. Organismen leben und sterben. So ist die Natur. Die Natur ist nicht nett. Weil ich mich so viel mit Nicht-menschlichen Organismen befasse, ist meine Perspektive und meine Lebensphilosophie nicht ganz alltäglich. Sicherlich werde auch ich traurig, wenn ich sehe, wie viele Menschen innerhalb weniger Wochen in Italien, in Belgien, in den Niederlanden gestorben sind, alles Länder, die ich sehr mag, in denen ich Freunde habe. Gleichzeitig weiß ich aber auch, es ist sinnlos jeden Tag, jede Woche die Toten zu zählen. Wir werden später sehen, vielleicht in zwei, drei oder zehn Jahren, inwieweit wir jetzt richtig und falsch gehandelt haben.

Luljeta, jetzt möchte ich dich etwas zu deinem derzeitigen Schreiben fragen. Die Pandemie hat das Festivals völlig verändert und du hast daraufhin ein Gedicht geschrieben, das extra für das Festival bestimmt ist und in dem es um die Situation geht, in der wir uns gerade befinden. War das schwierig? Zu schreiben, während wir alle noch mitten in der Krise stecken?

L.L.: Das Festival hat seinen Fokus verändert und auf die Pandemie gerichtet, daher habe ich mich dafür entschieden, etwas über diese Erfahrung zu schreiben. Das ist das erste Mal, dass ich ein Gedicht auf eine Deadline hin geschrieben habe, und so hatte ich ziemliche Angst, dass es nicht funktionieren würde. Aber nicht das zeitliche Limit war die größte Herausforderung, sondern das Schreiben während der Pandemie, als sich das Drama in Echtzeit abspielte. Die Kunst der Katastrophe und die Kunst über die Katastrophe. Ich erinnere mich an ein interessantes Experiment mit visuellen Künstlern während der Nuklearkatastrophe in Japan; damals stellte sich heraus, das die Werke, die während der Krise entstanden, oft viel schwächer waren, als die danach entstandenen – also mit einer gewissen Distanz zum Ereignis. Während einer Krise bist du verwirrt, psychologisch beladen, unfähig klar zu analysieren und Ideen daraus zu destillieren. Solche Dramen sind lähmend. Ein anderes illustratives Beispiel ist das furchtbare Erdbeben, das vor sechs Monaten Albanien erschüttert hat. Das hätte Künstlern eine unglaubliche Fülle an Material geboten, aber seltsamerweise hat es in der (visuellen) Kunst fast keine Spuren hinterlassen. Die Wirklichkeit verändert sich, und du kannst die Geschichte nicht zurückdrehen. Aber es ist genau dieser Schockzustand, von dem ich vorher gesprochen habe, der zum Verlust des künstlerischen Moments führt. Nach Wordsworth muss sich der Dichter Gefühle „in Ruhe“ vorstellen, damit das, was er kreiert nicht monumental wird, sondern für jede Zeit. Das beste, was ein Schriftsteller unter solchen Umständen wie der heutigen Pandemie tun kann, ist, Notizen zu machen oder ein Tagebuch zu führen, so wie ein Fotograf einfach fotografiert, ohne in die Tiefen des Prozesses einzudringen. Das Ordnen und das Schaffen von etwas Neuem aus diesem Material gehören in eine spätere Phase, denke ich.
Das Gedicht, über das wir sprechen, habe ich in andauernder Sorge um meine Familie geschrieben, die zur Zeit in New Jersey ist, wo die Situation sehr schlimm aussieht, in Angst um meine betagte Mutter, deren Gesundheitszustand nicht der beste ist, um meinen Vater, der allein in einer anderen Stadt lebt, um Verwandte und Freunde … Das ist meine kleine Welt, und diese Welt ist plötzlich in Gefahr. Jede schlechte Nachricht erschüttert diese Existenz. Ich war von einem angstvollen Schweigen umgeben, so still, dass ich den Eindruck hatte, nur das tragische Knarren der Räder der Karren im Ohr zu haben, die in mittelalterlichen Städten die Leichen der an Cholera Verstorbenen transportierten (anfangs wollte ich mein Gedicht sogar „Herrschaft der Räder“ nennen). Es war also nicht gerade leicht, die Konzentration und Klarheit zu finden, die fürs Schreiben notwendig ist. Noch dazu sind wir alle noch mitten in der Pandemie und jeden Tag geschehen unvorhersehbare Ereignisse und niemand weiß, wie sich das Ganze entwickeln wird. Das macht es unmöglich, künstlerisch vorauszulaufen, etwas zu schreiben, das auch zwei Monate später noch interessant zu lesen sein wird, oder nach zwei Jahren, hundert Jahren. Poesie braucht ihre Zeit. Daher habe ich das Gefühl, dem Gedicht fehlt noch etwas, das mit der Zeit kommen wird. Wenn nicht, wird es einfach im Papierkorb landen; aber momentan ist es doch wert, geschrieben zu sein.

A.G.: Luli, du hast zweiundzwanzig Jahre lang unter kommunistischem Regime gelebt, wie du vorhin schon kurz erwähnt hast, in einer Familie, die als „Feind des Regimes“ angesehen wurde, und diesen Zustand hast du in deinen Gedichten auch bereits behandelt und kommentiert. Das Leben der Albaner in der Isolation über mehrere Jahrzehnte hinweg und besonders die Isolation deiner Familie, könnte man annehmen, hätte euch gewissermaßen vorbereitet auf die heutige Situation. In dem Gedicht „Wasser und Kohle“ (Anm.: aus dem 2016 bei Ombra GVG, Tirana, erschienenen Band Homo Antarcticus) ziehst du Parallelen zwischen Diktaturen und Epidemien, wenn du schreibst: „Wie groß es auch sein mag/sogar das Schlechte wird einmal satt/Haie werden satt/Kriege erreichen eine Sättigung,/Borkenkäfer haben einmal genug,/Epidemien/Cholera und Pest,/Gletscher, alle sind sie eines Tages satt …/Sogar die Diktaturen,/während ihrem kranken Magen Sulfur entweicht“.

L.L.: Eigentlich ist es so, jedes Mal, wenn ich mich selbst oder jemand anderen dabei ertappe, dass wir uns über diese zwei Monate in Quarantäne beklagen oder depressiv werden, unter normalen Bedingungen, in einer gut geheizten Wohnung, mit Menschen, die wir gern haben, mit Fernsehen, Büchern, Mobiltelefonen und vielen anderen Erleichterungen, schäme ich mich, weil ich mich an die tausenden von Menschen erinnere, die unter dem kommunistischen Regime jahrzehntelang im Gefängnis oder in Konzentrationslagern dahinvegetierten. Ich denke an Sami Dangëllia, der dreiundvierzig Jahre lang politischer Gefangener war, ich denke an meinen Onkel, der vier Jahre lang in der Illegalität lebte, bis er ermordet wurde, im Dezember des Jahres 1950 … Und ich habe genug Menschen kennengelernt, die Derartiges erlitten hatten, und doch ausgeglichen und luzide waren, emotional wie auch intellektuell. Das ist einer der Momente, in denen ich pessimistisch werde, mich selbst und meine ganze Generation betreffend, und die nachfolgenden; das sind Momente, in denen ich viele psychologische Theorien zur Kraft des Menschen im Zusammenhang mit Rechten, Entbehrungen und Möglichkeiten in Zweifel ziehe. Und die Frage „Wohin sind wir unterwegs?“, drängt sich mir auf.
Aber zugegeben, die Situation mit COVID-19, die wir gerade erleben, ist ein Krieg ohne Grund. Das macht es so seltsam, banal, absurd, obwohl mir Kriege, Revolutionen, Totalitarismus – wenn Menschen einander quälen und umbringen – hundert mal absurder vorkommen. Oder die letzte Krise der syrischen Flüchtlinge. Das ist hundert Mal absurder, denn da wurde die ganze menschliche Errungenschaft, die wir als Zivilisation betrachten, in Zweifel gezogen. Die Konfrontation mit der Natur hingegen ist ein sauberer Kampf, kein Hinterhalt möglich. Trotz allem hat diese Katastrophe auch eine Art Katharsis gebracht, eine Verflachung der Unterschiede zwischen den Klassen, eine Verwischung der nationalen, ethnischen und religiösen Grenzen, also, in gewisser Weise hat uns das Virus „gleicher“ gemacht. Dennoch, wie ich es auch im Gedicht ausgedrückt habe, glaube ich nicht daran, dass die Welt „danach“ nicht mehr dieselbe sein wird. Sie wird dieselbe sein, denn wir haben ein kurzes Gedächtnis. Ich weiß nicht, wieso ich immer wieder an diesen Patienten in einem westlichen Spital denken muss, der sich, während er im Sterben lag, noch Sorgen machte, wer die Kosten der Behandlung übernehmen würde.
Andrea, es ist ein bisschen zynisch das zu sagen, aber womöglich doch wahr, dass solche außergewöhnlichen Erfahrungen für eine Künstlerin eine Goldmine sein können. Kriege, Epidemien, Katastrophen, totalitäre Regime – all das hat Kunst hervorgerufen. Aber auch simplere Erfahrungen wie beispielsweise die meiner Schwester: Sie war eine der ersten, die Albanien in dem großen Exodus im März 1991 verlassen hat. Diese furchtbare vierundzwanzigstündige Reise nach Italien, in einem Schiff, das mitten auf dem Meer defekt wurde, mit tausenden Menschen an Bord, so viele, dass sie nur stehen konnten, auf dem Weg ins gänzlich Unbekannte … Das scheint mir irgendwie auch ein Reichtum, und es tut mir fast leid, das ich nicht dabei gewesen bin. Was denkst du zu dieser Frage? Und: Kannst du derzeit schreiben?

A.G.: Ja, ich denke schon, dass Erfahrungen, die dich an die Extreme des Lebens führen – wie Traurigkeit oder absolute Angst, aber auch überwältigende Freude nach einem Schmerz (wie zum Beispiel der Geburt eines Kindes) die künstlerische Arbeit stimulieren. Auch die Verrücktheit – bis zur psychischen Krankheit – kann hochinteressante Kunstwerke hervorbringen. Es ist kein Zufall, dass sich viele gute Schriftsteller das Leben genommen haben. Die steigen in die Abgründe des Seins, wollen alles erleben, bis in den letzten Winkel entdecken, sie haben keine Angst, alles zu Ende zu denken, ohne Filter – oder ganz von Anfang an.
Ich denke, die Menschen, die es geschafft haben, auch im Leiden wichtige Kunstwerke zu schaffen, zu schreiben, sind außergewöhnlich. Normalerweise hält einen körperlicher Schmerz, psychische Belastung vom Arbeiten ab. Das Leiden an sich ist keine gute Voraussetzung für die Kunst. Nur wenn du gesund und munter daraus hervorgehst vielleicht. Dann kannst du es nach einiger Zeit, wie du sagst, wie eine Goldmine benützen. Ich frage mich manchmal, wie andere Menschen, also Menschen, die nicht künstlerisch arbeiten, das eigentlich schaffen, über Angst und Leiden oder Schmerzen hinwegzukommen, ohne die Hoffnung, die wir, oder zumindest ich habe, es irgendwann gewissermaßen umwandeln zu können, und dem Leid, der Angst, mit dieser Umwandlung Herrin zu werden.
Als meine Großmutter starb, war ich so bestürzt und traurig, dass ich angefangen habe, mein erstes Buch zu schreiben. Vor Schreck eigentlich. Ich habe vorher schon geschrieben, aber ihr Tod hat mir den notwendigen Fokus gegeben, um etwas zu machen, das besser war, als alles Vorangegangene, etwas, das wirklich mein Eigenes war. Ich sage immer, meine Karriere als Schriftstellerin habe ich meiner Großmutter zu verdanken; sie hat mir die erste Erzählung geschenkt, die ein Verleger direkt verlegenswert fand, ohne jeden Zweifel.
Andererseits glaube ich nicht, dass man mitten im Krieg, mitten in der Verzweiflung wirklich einen guten Roman schreiben kann; womöglich ein geniales Gedicht, wenn man geistig sehr gefestigt ist, aber normalerweise würde ich sagen, das braucht Zeit.
Für mich ist die Liebe ein weitaus inspirierenderes Gefühl als die Wut oder der Ärger. Und in letzter Zeit habe ich in mir sehr viel Wut gespürt. Die tut mir beim Schreiben nicht gut.
Am Beginn dieser Phase seit Mitte März habe ich überhaupt nicht geschrieben, ich hatte erstmals Angst, es nicht mehr zu können, das war es dann, habe ich wiederholt gedacht, es geht nicht mehr. Der Grund dafür war vor allem, dass ich allein sein muss, um zu schreiben, und plötzlich nicht mehr allein sein konnte. Außerdem begann ich unversehens viele Zeitungen zu lesen – das tut mir ebenfalls gar nicht gut, ich werde dann überaus misanthropisch.
Ich habe in der Zeit nur ein Gedicht geschrieben, ein kurzes, das von dem Wunsch einer Transformation handelt, der Verwandlung in einen Oktopus, denn der Oktopus muss keine Luft atmen, hat auch keinerlei Bedürfnis, jemanden zu umarmen. Das heißt, Oktopus zu sein, wäre derzeit eigentlich eine zu bevorzugende Lebensform.

Luljeta, hast du auch das Gefühl, dass sich in den letzten Monaten das Interesse für Poesie verstärkt hat? Also, es wird einerseits mehr gelesen, und andererseits haben viele die Dichterin, den Dichter in sich entdeckt?

L.L.: Ich empfinde das auch so. Als ob auf ganz natürliche Weise jetzt wieder der Moment der Poesie gekommen wäre. Ich denke, die Menschen nähern sich ihr instinktiv, ohne zu verstehen, warum, wie unsere Füße uns wie von selber zu einem Park oder in eine ruhige Ecke tragen. Prosa kann man auch zur Unterhaltung lesen, als Zeitvertreib, aber zur Poesie wendest du dich, wenn du eine große Leere in dir fühlst, wenn du nach Sinn suchst, nach Antworten für essentielle Fragen, die dich umtreiben. Für mich ist die Poesie eher eine Therapie. Ich selbst habe drei Dichter wiedergelesen: Elytis, Edgar Lee Masters und Ëalt Ëitman. Jeder von ihnen hat eine ganz unterschiedliche Sichtweise, sie ergänzen einander. Der erste macht dir Sehnsucht nach dem Leben, obwohl du noch lebst; der zweite setzt das Leben in einen Rahmen, indem er es von den Illusionen befreit; der dritte bekleidet es mit Epik, mit Zielen mit Moral. Und alle drei helfen in gewisser Weise. Ich habe unendlich viele Gedichte in den sozialen Medien kursieren sehen, von bekannten oder weniger bekannten Autoren, Gedichte, die aus dem Moment heraus entstanden sind, und alte Verse, mit einem Klang, den es vorher noch nie gab. Das Interessante an diesem Phänomen ist, dass die Poesie jetzt weder als Werbeobjekt noch als kriminelle Einzeltat wahrgenommen wird, sondern als sauberes Kommunikationsmittel, als Bedürfnis sich mitzuteilen. Und es gibt keine größere Freude für einen Autor, als wenn ein Gedicht zirkuliert, von Hand zu Hand gereicht wird, kommentiert wir, andere dazu bringt, sich besser zu fühlen. Ich würde sagen, wir haben hiermit ein Beispiel dafür, welche Funktion Poesie haben könnte.

Jetzt bin ich aber noch neugierig, wie deine Beziehung zur Poesie in den letzten beiden Monaten war, Andrea? Was hast du gelesen?

A.G.: Gedichte sind für mich die Gebete nicht-religiöser Menschen, also auch die meinen. Ich habe Cioran gelesen, beispielsweise, er hat zufällig ein Gedicht geschrieben, das „Corona“ heißt. Darin schreibt er von einer echten Corona, keine Rede von einem Virus. Das ist auch wichtig, sich zu realisieren. Worte sind Worte, und wir geben ihnen ihre Bedeutung. Bis kürzlich war Corona für die meisten ein leichtes Bier.
Gedichte sind gut in einer Zeit wie der jetzigen, wenn es schwer fällt, sich zu konzentrieren. Gedichte helfen gegen die Nachrichten, denke ich. Sie sind eine Impfung gegen die Art und Weise wie die Nachrichten sprechen. Gegen den Überschuss an Metaphern, die Politiker und Journalisten verwenden.
Mir ist aufgefallen, dass die Dichter, die Menschen waren, denen ich mich in den vergangenen zwei Monaten am nächsten gefühlt habe, die mich besser verstanden als die anderen, es war, als wäre die Dichtung eine Nation für sich und die Dichter einander näher als die Schweizer den Schweizern oder die Albaner den Albanern.
Vorige Woche habe ich einen Artikel beendet, einen Essay über eine österreichische Dichterin, Doris Mühringer, den ich seit ein paar Monaten unfertig liegen hatte. Ich habe an dem Essay zu arbeiten begonnen, um meine Gedanken auf etwas anderes zu richten, vom Sumpf des Alltags wegzukommen. Und Mühringer hat mir gutgetan. Weil sie gar nichts mit der jetzigen Situation zu tun hat. Ich las sie und dachte über ihr Leben nach; sie hat während des II. Weltkrieges in Wien Germanistik studiert, ist 2009 in Wien gestorben und hat einige unverwechselbare Gedichte hinterlassen. Sie hat Wien tatsächlich zerstört gesehen, und das ihr Leben lang nicht mehr vergessen. Irgendwie haben mich die Gedanken über Doris Mühringer auf dein neuestes Gedicht vorbereitet. Und etwas sehr Außergewöhnliches, nie Dagewesenes ist auch geschehen in den letzten zwei Monaten, wir beide und viele andere Leute auf der Welt haben zum ersten Mal sehr ähnliche Leben geführt – zumindest von außen her gesehen ähnlich – Leben, die nur innerhalb der eigenen vier Wände oder in unmittelbarer Nähe davon geführt wurden, zusammen mit ein paar nahestehenden Menschen, oder mit keinem. Ohne Reisen, ohne Ausflüge. Ohne Einkaufen. Ohne Restaurants.

Ich habe meinem Sohn Gedichte vorgelesen, auf Italienisch, Französisch, einige einfache Lieder, und dann wollte er jeden Abend Lieder/Gedichte bevor er einschlief, insbesondere eins, das ich gleich zitieren werde. Nur wenn wir es fünf Mal immer schneller und schneller werdend und während wir uns schneller und schneller um uns selbst drehten gesungen hatten und dann schwindlig aufs Bett gefallen waren, konnte er schlafen.

Sur le pont d’Avignon,
L’on y danse, l’on y danse,
Sur le pont d’Avignon
L’on y danse tout en rond.
Les belles dames font comme ça …
Les jardiniers font comm’ ça
Et puis encore comm’ ça

Les couturiers font comm’ ça …
Les vignerons font comm’ ça …
Les blanchisseus’s font comm’ ça …
Les officiers font comme ça …
Les bébés font comme ça …
Les musiciens font comme ça …

Nach diesem Tanz eine letzte Frage an dich, Luljeta. Du hast vorher gesagt, dass es das erste Mal war, dass du ein Gedicht „auf Bestellung“ geschrieben hast. Kannst du uns ein Geheimnis verraten oder zumindest die Hälfte des Geheimnisses: Wie schreibst du normalerweise Gedichte, ohne Bestellung?

L.L.: Ich empfinde die Poesie als sehr kapriziös, sie diktiert dir ihre Disziplin, nicht vice versa. Es können zig Anregungen von außen kommen, aber nicht alle verwandeln sich in Poesie. Ich bin oft wütend auf mich selbst, wenn ich mir keine Notizen gemacht habe, weil ich den Großteil davon sehr schnell vergesse, andererseits denke ich auch, dass diese Art von „Schlampigkeit“ dem Gedächtnis hilft, das Wertvolle auszusieben: Die Ideen, die unterwegs verloren gehen, sind womöglich nicht viel wert. Nicht alles, das momentan „exciting“ wirkt, bleibt so. Diese „Erregungen“ von außen können von überall her kommen, ein alltägliches Gefühl (Geschehnisse, Gesten, Gespräche, Details, Bilder). Einige meiner Gedichte haben als Anfangspunkt ein Bild, eine Geste, oder ein einfaches Detail: ein beschlagenes Fenster im Autobus, ein fehlender Knopf auf einer Soldatenuniform, der Duft nach frischer Petersilie, saubere Leintücher im Hotel, wie die Volksschullehrerin meinen Namen falsch schrieb, ein umgefallenes Straßenschild, eine Leiter, die aufs Dach führt, der Tomatengarten meiner Kindheit, ein alter Koffer aus Holz, private Briefe, und so weiter … Aber auch Ungewöhnliches kann die Quelle für Gedichte sein. Eines meiner letzten Gedichte heißt „Geisterbahnhöfe“, das stammt von einer historischen Tatsache, die ich sehr intrigierend finde: Die U-Bahnhaltestellen in Berlin, in denen während der Teilung der Stadt im Kalten Krieg keine Züge hielten. Sie durften nur durchfahren. Diese Tatsache entwickelt sich im Gedicht zu einer Metapher, in dem sie sich der Analogie mit menschlichen Schicksalen im Allgemeinen bedient, mit unbenutzten, überblätterten Kapiteln, nicht konsumierten Dingen; weil jeder von uns solche Phasen im Leben kennt.

Meistens sind die eindringlichsten Ideen die, die aus der Vermischung persönlicher Erlebnisse mit historischen Ereignissen entstehen, vielleicht weil sie einen stärker ins Innerste treffen. Auch das Gedicht „Wasser und Kohle“ ist so eines; es behandelt das Drama des Kommunismus in Albanien, das ich jahrelang in Gedanken wiedergekaut habe, bevor ich das Gedicht schrieb.

Eigentlich kenne ich nur sehr wenige meiner Verse auswendig, selten ein ganzes Gedicht, aber an den Anfang, den Grund, die Quelle der Idee, erinnere ich mich immer. Das ist für mich der emotionalste Moment beim Schreiben, das Entdecken der Idee und nicht die künstlerische Komposition. Ich fühle instinktiv, wenn eine Idee stark ist, verblüffend. Was danach getan werden muss, ist nur eine Frage des Durchhaltens und der Zeit. Also, mir ist es eigentlich nie passiert, dass ich mich zum Computer setze, ohne bereits etwas ziemlich Klares im Kopf zu haben, und das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum ich selten etwas Unfertiges in der Schublade habe, wenig wegwerfe, und selten schreibe.

Der Zufall, alles, was nicht von mir abhängt, spielt eine große Rolle in der Dichtung, wie auch in der Fotografie. Aber, wenn der Moment da ist, musst du bereit sein, so wie auch der Fotograf seine Kamera dabei haben muss. Ich meine, deine Sinne müssen immer scharf sein, aufmerksam, dein Hirn ausreichend intakt, um den Moment aufzufangen; auch wenn du dich womöglich absichtlich von der realen Welt entfernt hast, um die notwendige Distanz aufzubauen, um sie zu verstehen. Genau diese meditative und analytische Konzentration auf die Welt ist es, warum ich sage, das Dichten ist eher einen Lebensstil als ein Talent.

Übersetzt aus dem Albanischen von Andrea Grill

Luljeta LLESHANAKU

Urbi et Orbi

1.

Trockene Luft und Staub.
Mäuse überqueren ungestört die Straße.
Schneidende Vogelstimmen wie aus einem Abgrund.

Keine Menschenseele; nur Steine und Schatten.
Eine unsichtbare Hand berührt leicht
die euphorischen Namen der Cafés und Bars
als wolle sie sie auswendig lernen.

Sogar der obdachlose Mann ist nicht in seiner üblichen Ecke
seine leeren Flaschen sind über Nacht verblichen,
jetzt gehören sie zur Archäologie von morgen
(Falls es ein Morgen gibt …)

Es könnte Paris sein, am 14. Juli 1940,
Budapest am 4. November 1956, Prag am 14. Juni 1968,
jede Stadt, die am Tag einer Invasion den Atem anhält.

Nichts dergleichen …

2.

Covid-19 „Die größte Gefahr
seit dem Zweiten Weltkrieg …“

Doch wer das beweisen könnte,
zieht spätnachts, feierlich
in Särgen, Militärlastwägen
durch eine Straße, die „Sankt Lazarus“ genannt wird,
in irgendeiner Stadt, egal wo,
Urbi et Orbi.

Und sie haben keine Namen mehr, nur Nummern,
stornieren die Metamorphose unserer Art:
der Schmetterling wird wieder zur Puppe.

Man schlägt ihnen die Friedhofstore vor der Nase zu;
kein Platz, auch nicht im Krematorium.

Eine ganze Generation! Ihre Särge sind schwerelos.
Die Geheimnisse,
die sie mit niemandem teilen konnten, in ihren letzten Atemzügen,
lassen sie uns sauber und intakt in Erinnerung bleiben,
wie der Korb reisefertig verpackten Porzellangeschirrs.

Selbst die Räder der Lastwägen bewegen sich mit listiger Ruhe über den Asphalt —
der Tod flieht vor sich selbst,
in diesem klebrigen Märznebel.

3.

Wie ein Krieg, aber nichts davon ist wie im Krieg:
weder der Ärger, noch die Opfer, noch der Ruhm,
noch wie enttäuscht wir von denen sein werden, die morgen die Siegesfrüchte ernten.

Versteckt hinter Mauern, Vorhängen, Leder, Gesichtsmaske
höre ich mich atmen,
meine natürliche Wahrheit
das furchterregende Unbekannte.

Ein Teller mit Äpfeln und ein Messer.
Verrat hängt in der Luft.

Sehr wahrscheinlich
wird einer der Mäntel, die im Korridor hängen,
nie mehr getragen werden.

Der Tod nimmt denselben Weg
wie die Liebe:
ein Händedruck, eine Berührung, ein Flüstern ins Ohr, ein Seufzer …
Wer von uns wird der Erste sein?

Und wer von uns der Betrogene …?
„Wenn du stirbst“, fragen die Augen meiner Mutter,
„wer wird mich dann versorgen?“

4.

Coronavirus, pandemonium, quarantine,
morbid, incubation, mortal …

Plötzlich sind wir wieder bei lateinischen Begriffen gelandet,
wie Verirrte umdrehen, zurückgehen,
dorthin wo sie begonnen haben –
bei den Urinstinkten.

Wir kehren zu unseren Urbildern zurück
lange Haare, Bärte
wie damals, in der turbulenten Nacht am See Genezareth,
als wir nicht verlassen wurden.

Et ait illis quid timidi estis1…?
Freitagabend, leichter Regen
die Pflastersteine auf der Piazza del Vaticano
glänzen wie ein Feld schwarzer Diamanten.

5.

Gestern ist jetzt sehr weit weg;
und morgen noch nirgendwo am Horizont.

Wir hupen, senden nervöse Signale
wie Fahrzeuge im Stau auf der Autobahn;
wir stecken im Nichts.

Ich drehe alle Wasserhähne voll auf.
Auf der anderen Seite der Wand wummert Heavy Metall, Children of Bodom vielleicht …
Ober uns knarrt ein Doppelbett …
Unter uns reinigt ein Nachbar sein Jagdgewehr,
eine umso penetrantere Stille …

Am kleinen Balkon nebeneinander
ein Nachthemd – kopfüber – und eine zerknitterte Fahne.
(Wer wird diesen Traum später einmal deuten?)

Draußen der nächste Rettungswagen
mit stets lauter werdender Sirene,
obwohl die Straße vollkommen leer ist.

Die Wände sind keine Wände mehr; das Haus kein Haus.
Drinnen und draußen sind jetzt dasselbe.

6.

Angesichts von Todesopfern
werden die Dinge sehr einfach:
nur eine Geste, eine Grimasse, eine eindeutige Emotion,
wie in einem Fresko.

Meine Mutter wäscht und kämmt sich jeden Tag sorgfältig.
Was immer auch kommen mag,
sie wird darauf vorbereitet sein.
Sie nimmt ihren Platz im Fresko ein,
mit all seinen Sprüngen, der Verblichenheit und dem Stück Mauer
dort, wo ein Teil fehlt.

Eine Hand streckt sie nach mir aus
mit der anderen hält sie den Mantel zusammen,
ihre Nacktheit bedeckend, obwohl sie zum ersten Mal vollzählig ist
(Ursache und Wirkung)
und genauso einsam.
Aber keinem kann sie die Schuld dafür geben.

7.

Wenn dieser Alptraum zu Ende gegangen ist,
werden wir zu den alten Schuhen, Farben, Gebräuchen zurückkehren
und zu unserer Eitelkeit.

Wir werden unsere Zähne anspitzen und Blumen zu den Gräbern tragen,
wir werden über Liebe und Politik sprechen, ein Glas Wein dabei trinken,
wir werden unsere Haut straffen und die Pfunde der Depression verlieren,
wir werden vergessen; das Vergessen ist unser einziger Talisman.

Die Welt wird wieder dieselbe sein.

Doch mittlerweile suchen wir verzweifelt nach einem Alibi
für unsere Wiederauferstehung,
etwas Glaube, Moral, Sinn.

Übersetzt aus dem Albanischen von Andrea Grill. Die Originalversion des Poesiegespräches auf Albanisch finden Sie auf der Englischen Seite.