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POESIEGESPRÄCH: YI WON

Ich klicke ständig auf die Welt

Yi Wons Gedichte schwanken auf beunruhigende Weise zwischen buddhistischen Traditionen, Body Horror und pessimistischen Zukunftsvisionen – ein mit Blut und Mondlicht geflutetes Labyrinth. Im Gespräch mit ihrer Übersetzerin Simone Kornappel.

Simone Kornappel: Wenn Sie sich vorstellen, Ihre Gedichte wären Kästen, in die man entweder mit einer Hand hineingreifen oder etwas herausgeben könnte: Wie würden Sie beschreiben, was dort ist?

Yi Won: Ein kleiner Vogel aus gefaltetem Papier. Je nachdem wie man hineingreift, den Vogel berührt, kann man seine Knochen spüren. Und wenn die Augen des Vogels von der ihn greifenden Hand bedeckt würden, könnte er in dieser nun stockduster gewordenen Dunkelheit verharren.

SK: Ich frage aus einem bestimmten Grund: Es gibt in Ihren Texten Begriffe wie die Leere, die häufig wieder aufgegriffen werden. Auch Zeilen ihrer Gedichte greifen mitunter Strukturen wieder auf, besetzen jedoch z.B. einen minimalen Aspekt im Satzgefüge anders. Das wirkt sehr tastend auf mich, wie etwas, das man nochmal und nochmal in die Hände nehmen muss, um andere Aspekte zu beschreiben oder neu in Bezug zu setzen. Stimmt der Eindruck und können Sie etwas zu den Motiven sagen, die in Ihren Texten vermehrt auftauchen?

YW: Die Leere, die ich adressiere, ist keine emotionale Leere, sondern eine visuelle Leere, Luft, die fortlaufend mein Interesse schürt. Diese Leere schafft einen Raum, einen, der Treppe und Dach erst möglich macht. Luft/Leere, das ist etwas, das ich weiter und weiter erkunden möchte. Nicht abstrakte Leere, mehr ist es die Leere als Konkretheit, von der ich noch viel mehr erfahren möchte.
Wenn ich ein Gedicht schreibe, bin ich meinen Empfindungen auf der Spur, überspringe aber ganz bewusst die Anteile, die ich nicht ausfüllen kann, so dass sich tendenziell auch nicht die gesamte Szenerie offenbart. Insbesondere Gedichte, die emotional mehrschichtig sind, haben diese Leerstellen dort, wo ich keine Interpretation und keine Empfindung ausdrücken kann. Ich denke, das ist mein wahrer Rhythmus. Mir ist diese emotionale Bewegung weitaus wichtiger als die Bedeutung. Wie Sie selbst auch bemerkt haben, hat das für das Lesen meiner Gedichte die Konsequenz, dass sich Bedeutung impliziert, überlagert oder erweitert.

SK: Der Moment und das Minimale, können Sie diese beiden Begriffe in Bezug auf Ihr Schreiben und Ihre Gedichte beleuchten?

YW: Ein Moment ist wie eine Sekunde, würde ich sagen. Sein Minimum, der kleinste Teil, ist der Beginn dieser einen Sekunde. Dort wo die Sekunde begonnen hat, aber auch nicht verschwunden sein wird, selbst wenn diese Sekunde vorbei ist. Eine Art Archetyp.
In einer Sekunde Licht ist das Minimum enthalten, das fähig ist, dieses Licht zu entfachen, glaube ich.
Für Gedichte kann Moment und Minimum das Aufgreifen eines Aspektes bedeuten, der vielleicht sehr spät oder fernab des Fokus erscheint. Wenn wir nun Licht, das verspätet eintrifft, Licht, das einen womöglich nicht erreichen kann, als „Refrain“ verstehen, so könnte das Lied dennoch gehört werden. Ein Lied von einer Sekunde, in dem ein weiteres Lied enthalten ist.

Simone Kornappel: Gab es Momente oder Begebenheiten, die Ihr Schreiben verändert haben oder Sie nicht haben schreiben lassen?

Yi Won: Es gab zwei Ereignisse, die eine große Veränderung in Bezug auf meine Gedichte nach sich gezogen haben: der Tod meines Lehrers vor 13 Jahren, ein persönliches Ereignis, und die Katastrophe des Fährschiffs Sewol1 vor 6 Jahren, die man als gemeinschaftliche Tragödie bezeichnen kann. Da ich keine Poesie schreiben wollte, in der meine Sichtweise oder die Sicht eines Menschen als Erstes steht, mischte ich mich in der ‚ersten Person‘ auch nicht ein. Aber diese beiden Erfahrungen waren wie ein Wirbel, in den man, ohne auch nur nachdenken zu können, von der einen auf die andere Sekunde hineingesogen wird. Wie von selbst war ich mittendrin, das Schreiben in der ersten Person hat hier begonnen.
1 Das Fährschiff Sewol 세월호 kenterte im April 2014 im Gelben Meer. Von 476 Menschen an Bord überlebten nur 174 das Unglück.

SK: Gab es auch Momente, in denen Sie die Sprache verflucht haben?

YW: Poesie zu schreiben, ist oft schwierig. Es gibt häufig Momente, in denen ich nicht weiterschreiben kann oder sogar aufhören muss. Am Ende aber habe ich immer dieses Bedürfnis, meine Laterne mit Gedichten anzünden wollen. Dafür suche ich wieder nach einem Streichholz in mir. Mein Lieblingsstreichholz, mit dem ich meine Laterne zum Leuchten bringen möchte, ist das Gedicht.

SK: Welche Autorinnen oder Autoren hatten Einfluss auf Ihr Schreiben?

YW: Beeinflusst haben mich Yi Sang, 30er-Jahre, Oh Kyu Won, 60er-Jahre, und Kim Hye Soon, 80er-Jahre. Von Yi Sang habe ich Eigenwilligkeit und den starken Blick auf Tatsachen gelernt, von Oh Kyu Won, der mein Lehrer war, Methodik und Genauigkeit der Sprache, Kim Hye Soon wiederum hat mich unterschiedliche Sprecharten und Intensität gelehrt.

SK: Wenn Sie Ihre Gedichtbände zugeschickt bekommen oder eine Anthologie oder Zeitschrift, die neue Gedichte von Ihnen abgedruckt hat: Schauen Sie rein oder legen Sie sie (erst einmal) weg?

YW: Erst lasse ich sie liegen, dann lese ich langsam mit der Zeit. Die Empfindung ähnelt dem Moment, in dem man die Rückkehr eines weggeflogenen Vogels erwartet. Aber leider fliegt der vermisste Vogel wieder weg.

SK: Welcher Moment fühlt sich lebendiger an: Wenn Sie schreiben oder wenn der Text fertig ist?

YW: Ich gehöre zur ersten Gruppe. Nicht der Moment als Ganzes, würde ich sagen, sondern als der Moment im Moment, der Moment als Sekunde. Unbewusst notiere ich einen Satz und dann bemerke ich, dass dieser Satz mit der Welt verbunden ist, spüre den Grund, warum ich hier auf der Welt bin. Deshalb schreibe ich weiter Gedichte.

SK: Ist das Gedicht fertig oder schreibt man eigentlich immer weiter an einem Text?

YW: Das hängt vom Gedicht ab, aber viele schreibe ich mit der Zeit und lasse sie hinter mir. Ausgehend von der Empfindung suche ich eine Form. Wie ein Bildhauer, der aus einem riesigen Stein ein Gesicht herausarbeitet.

SK: In welche Sprachen sind Ihre Gedichte bisher übersetzt? Und wie ist Ihr Gefühl, Ihr Schreiben übersetzt zu sehen? Ihr Schreiben ist sehr auf Genauigkeit bedacht, deshalb frage ich

YW: In den USA werden in Kürze Gedichte auf Englisch veröffentlicht. Daneben gibt es bereits weitere Übersetzungen ins Englische, auch Übersetzungen ins Niederländische. Ich konnte dazu bereits einige Workshops besuchen, in denen meine Gedichte in verschiedene Sprachen übersetzt wurden.
Was Übersetzungsergebnisse betrifft, so habe ich zuweilen schon Differenzen bemerkt, ein Abdriften von Emotion und Umgebung. Übersetzen aber ist wie Tanzen. Und mir macht es Freude, ein Tanzen zu sehen, das sich ähnelt und doch ein wenig anders ist.
Die für die Veranstaltung ausgewählten Gedichte orientieren sich am gegebenen Thema, liefern hierzu verschiedenste Vorstellungen und fragmentierte Bilder. Da freue ich mich auf unseren widerspiegelnden Tanz.

SK: Sie haben auch Prosa geschrieben: Abgesehen von der Gattung, welche Unterschiede sehen Sie in Ihrem Schreiben?

YW: Für mich funktionieren Lyrik und Prosa anders. Ein Gedicht kommt auf die Welt, wenn eine Verbindung zwischen dem Unsichtbaren und Sichtbaren gelingt. Außerhalb der Regel wird es erst frei. Prosa aber reflektiert aktiv Wirklichkeiten. Wenn ich ein Gedicht schreibe, verlieren meine Füße den Kontakt mit dem Boden, wenn ich eine Prosa schreibe, haben meine Füße festen Kontakt mit dem Boden. Im Gedicht merke ich die Schwerkraft, in der Prosa eher nicht.

SK: Gibt es etwas, das man von Ihnen als Dichterin oft erwartet, weil man bestimmte Vorstellungen von Dichtern hat, dass Sie aber nicht können oder gar nicht leisten wollen?

YW: Was über die stereotypen Blicke auf mich als Dichterin von mir verlangt wird, interessiert mich nicht sonderlich. Ich versuche, meine eigene Art und Einstellung beizubehalten.
Aber ich habe eine Art Verantwortung in den Bereichen, in denen Poesie zur Welt, zur Gesellschaft beitragen kann. Es ist kein großer Beitrag, den ich mir für meine Gedichte wünsche, sondern etwas wie ein neues Gefühl, eine kleine Freude, eine zielführende Rolle wie die einer kleinen Laterne. Dichter sind auch Bürger, aber genau deshalb bitte ich häufig das Naive und den Humor in mir, mich nicht zu verhärten, nicht musterhaft sein zu lassen.

SK: Denken Sie, man kann Gedichte verstehen oder sollte sie verstehen wollen?

YW: Ich denke, Poesie ist eher Kommunikation als ein Verstehen. Wenn man eine Kommunikation als spontane Gemeinschaft, ein Miteinander beschreibt, ist das Verstehen ein Zustand, der sich später einmischt – als Interpretation. Daher ist das Gedicht ein Stadium der Kommunikation vor dem Verstehen, ein Mitgefühl, bevor es verbalisiert wird. Wenn man etwas zu fühlen imstande ist, das man eigentlich nicht verstehen, nicht interpretieren kann, hat man die Bekanntschaft mit einem Gedicht gemacht, denke ich.

SK: Welche koreanischen Lyriker würden Sie dem deutschen Publikum empfehlen? Warum diese?

YW: Ich glaube, in Deutschland ist sie schon bekannt, aber ich empfehle Kim Hye Soon.
Sie hat eine Besonderheit mit ihrer Sprache, die Logik und Unlogik zu überkreuzen versteht. Auch möchte ich die zeitgenössische Dichterin Choi Seung Ja empfehlen. Sie beherrscht eine heiße, entbrannte Sprache. Die Gedichtwelt der beiden Lyrikerinnen ähnelt, bildlich gesprochen, dem Abgrund in deutschen expressionistischen Gemälden.

SK: Es gibt Autoren, die ihren Gedichten ungemein ähnlich sind, in die Art, wie sie kommunizieren z.B., Sprache nutzen, sich mitteilen, meine ich. Würde ich Sie wiedererkennen, wenn wir uns miteinander unterhielten oder ist das Gedicht Ihr anderes Sprechen?

YW: Ich glaube, ja, nach 30 Minuten. Wenn ich im Alltag spreche, äußere ich mich anders, als ich im Gedicht schreibe. Meine Gedichte versuchen anzudeuten, mein gesprochenes Wort versucht, zu überzeugen. Trotzdem würden Sie Kommunikationsmethoden im Alltagsgespräch wiedererkennen, die denen meiner Gedichte ähneln. Mein Reden und mein Gedicht sind im Begriff zu rutschen, aber sie rutschen in die gleiche Richtung.

Aus dem Koreanischen übersetzt von Simone Kornappel und Aynn Kim. Die Originalversion des Poesiegespräches auf Koreanisch finden Sie auf der Englischen Seite.