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POESIEGESPRÄCH: YANKO GONZÁLEZ

Mit einem Bild von mir im Kopf

Yanko González‘ Gedichte erforschen mit anthropologischem Blick die Ränder der Gesellschaft und sind bewusst offen gelassene Kunstwerke: wild und wahrhaftig, laut und zärtlich, sozialkritisch, avantgardistisch und witzig zugleich. Im Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin Rike Bolte.

Chile, in den späten 1970er Jahren. Yanko González ist noch keine zehn Jahre alt. Sein Vater arbeitet als Fahrer des Universitätsverlags in der Hauptstadt des südamerikanischen Landes und hat bald nach dem Putsch des 11. September 1973 den Auftrag erhalten, Hunderte von Büchern zu transportieren, damit diese den Flammen übergeben werden. Die Bücher kommen in einen Laster, Yankos Vater fährt los – und schafft die Bücher zu sich nach Hause. Einige Jahre später wird sein Sohn Yanko in einer Kammer auf diese Werke zensierter und verfolgter Autoren stoßen –Enrique Lihn, Nicanor Parra, u.a., – und so in die Welt der Poesie eingeführt.
Yanko González‘ politische Sozialisation beginnt in den 80er Jahren, war aber in dieser klandestinen Initiation in die Welt der Literatur bereits angelegt. Der sozialistischen Jugend beigetreten, in der Studentenbewegung engagiert, erlebt der Dichter die Transition Ende der achtziger Jahre allerdings schon bei verblasster politischer Utopie. Die Berliner Mauer fällt. Yanko González sucht nach einem neuen, nach einem literarischen Weg. Nach den ersten Kontakten mit der derzeitigen Literaturszene wird er den Eindruck fehlenden Muts nicht los. Er verlässt die Hauptstadt und nimmt im Süden des stark zentralisierten Chiles ein Studium der Anthropologie auf, leitet nebenher Schreibwerkstätten.
Bis heute lebt er in Valdivia, war dort bis vor kurzem Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universidad Austral und ist nach einem Post-Doc-Aufenthalt in Newcastle weiterhin als Professor der Anthropologie tätig. Vor allem aber ist er als Dichter bekannt.
Yanko González‘ Bücher sind, ganz bewusst, in einem kleinen Verlag in Valdivia erscheinen, Ediciones el Kultrún (ein Cultrun ist ein aus Magellanscher Winterrinde, Südbuchen- oder Lorbeerholz gefertigtes Percussion-Instrument, das zentral ist in der Kosmovision der Mapuche-Kultur). 1998 erscheint Metales Pesados (‚Schwermetalle‘), ein Gedichtband, der von anthropologischer Aufmerksamkeit zeugt; ein Resonanzraum für Stimmen des politischen, sozialen Zorns, und die feinen Register der Ironie. Ein Balanceakt zwischen Innen- und Außenraum, in dem sich poetisches Wissen verstreut. Zudem hat González schon als Gast der Latinale 2008 gezeigt, was es heißt, den performativen Aspekt von Sprache auf die Lesebühne zu holen. Das Rezitieren und gar Komponieren von Versen ist ein improvisiertes Geschehen.
Leser seiner selbst, Leser vieler andere Autor_innen, deren Namen in seinen Texten auftauchen wie Stecknadelköpfe einer poetischen Kartographie, legt Yanko González ein stetig und mit wachsamer Geruhsamkeit gewachsenes Werk vor, das im Jahr 2007 mit Alto Volta (‚Obervolta‘), im Jahr 2011 mit dem großformatigen Elábuga (‚Jelabuga‘) und im Jahr 2018 mit Torpedos (‚Spickzettel‘) fortgesetzt wird. Um die summa der drei Werke von González, sowie um einige subtile Einzelheiten und einer im Jahr 2019 bei Lumen (mittlerweile Random House) unter dem Titel Objetivo General erschienenen Gedichtauswahl wird es im folgenden Interview gehen.

RB: Yanko, willkommen “in Berlin”’.

YG: Danke, Rike. Diese Anführungsstriche stimmen mich ziemlich traurig, glaub mir. Denn obgleich ich vor ein paar Jahren mal die Gelegenheit hatte, kurz in Berlin vorbeizuschauen, war vor allem mein “literarischer” Aufenthalt in Berlin im Rahmen der Latinale, die du vor über zehn Jahren schon zusammen mit Timo Berger organisiert hast, biographisch und kreativ gesehen äußerst entscheidend. Jetzt im Sommer 2020 in ein “literarisches Berlin” zurückzukehren, hätte eine gewisse Sehnsucht gestillt und mir erlaubt, Erinnerungen nachzugehen, Bruchstücke meiner selbst einzusammeln, die um den Alexanderplatz herum oder auf den noch ungentrifizierten Straßen Neuköllns liegengeblieben sind. Doch wir können eben nicht alle Schlachten gegen das Coronavirus gewinnen.

RB: Yanko, du bist Erschaffer eines lang-atmigen poetischen Projekts. Dein Werk baut auf einem sehr großen Respekt gegenüber jener Zeit auf, die der tiefgehende Schreibprozess eben braucht. Dieser Prozess nahm Ende der achtziger Jahre seinen Anfang, ja eigentlich auch schon vorher, als du Gedichte zu lesen begannst und mitten in der Diktatur auf die von deinem Vater geretteten Bücher stießt. Wie sehr ist ein Dichter auch Leser und wann ist dieser Status strenger, oder gar gnadenloser: Wenn er sich selbst liest, oder andere? Könntest du uns bei der Beantwortung dieser Frage auch noch darüber in Kenntnis setzen, welche anderen Dichter*innen bei diesem Marsch hin zu deinem eigenen Werk besonders mit hineingespielt haben oder heute noch hineinspielen? Immerhin finden sich in deinem Werk eine Menge Widmungen, Epigraphen… Wer bewohnt dein Werk?

YG: Ja, lang-atmig ist es, was ich mache, doch ich schreibe auch sehr langsam, so langsam, dass es scheint, ich schriebe gar nicht. Ich habe aus meiner Muse eben keine Hure gemacht. Ich bewege mich zwar vorwärts, zögere dann aber und weiche zurück, wenn ich das Gefühl habe, ich hätte da etwas zu schreiben oder auch zu streichen. Das passiert beinahe immer dann, wenn ich genügend Stimmen, Groll, Unruhe oder auch eigenen Schmerz wahrnehme, den ich, mit mal mehr, mal weniger Geschick zu vergemeinschaften und manchmal auch zu politisieren versuche. Ich kann einfach kein Gedicht schreiben, in dem keine Leute vorkommen. Und bisweilen braucht es eben seine Zeit, bis diese Leute zusammenkommen und ich ihnen zuhören kann, schließlich befinden wir uns in einer noch nie gehabten Zeit der Beschleunigung und eines Riesengetöses, so dass es wirklich schwierig ist, Stimmen einzusammeln, ohne es nebenher knistern, krachen oder lärmen zu hören. Ich gebe den Versuch, einer gewissen lyrischen Selbstbezogenheit zu widerstehen und eher den Ursprung des Widerhalls einzufangen, der alles Schreiben ausmacht, einfach nicht auf. In diesem Sinne stammt die Spannung dessen, was ich schreibe, aus dem Status, den ich der Metapher zuschreibe. Diese besitzt für mich eine kognitive Macht. Das heißt, dass sie nicht nur auf effiziente Weise das einfängt, was wir so ungestraft Realität nennen, sondern dass sie gleichzeitig auch noch in der Lage ist, sie auseinanderzunehmen. Merkwürdig, oder? Wie von einer größeren, ästhetisch oder “anästhetisch” potenzierten Erfindung ausgehend können wir, im Vergleich zu den von den Naturwissenschaften oder der Physik aufgestellten Formeln mit ihrer Methodologie und ärgerlichen Buchstäblichkeit, nicht nur ebenso gültige, sondern gar noch wirkungsvollere Unterscheidungen vornehmen. Tatsächlich bewegen sich seit meiner ersten Publikation – „Metales Pesados“- viele meiner Gedichte entlang dieses Versuchs. Was so viel heißt wie: selbst wenn sie – um ein Beispiel zu nennen – die Misere des späten Pinochetismus und den ewigen und so kompromissbereiten “Übergang in die Demokratie” nachzuzeichnen versuchen, so tun sie es aus einer schrägen Sichtweise und mit Erfindungsgabe. Allerdings geht dies nicht nur von diesem in seiner Autorschaft und Autorität so vorhersehbaren „Bauchrednerdichter“ aus, sondern es geht von denen aus, die das Gedicht bewohnen, von diesen Nährstoffen, diesen Stimmen und Dokumenten, die in den meisten Fällen dem Dichter und dem Gedicht gar keinen Glauben schenken. Ich glaube ja, dass es in diesem Wirbel, in dem sich alles Gesprochene mit den Benannten reibt, ein „kritisch-politisches‘“ und ästhetisches Nachglühen gibt, dem Aufmerksamkeit zu schenken sich lohnt. Mag sein, dass ich hier ein wenig naiv bin, doch ich glaube nicht nur an die Oralität, sondern auch an die ‚Choralität‘ der Dichtung. Und wenn der Dichter eine Pflicht hat, dann die, das Gedicht besser zu machen, als er es vorgefunden hat. Und natürlich bedeutet es aufzusagen und es immer wieder zu erschaffen und neu zu erschaffen auch, es immer wieder zu vergemeinschaften und so das lyrische Subjekt zu entprivatisieren. Nun ja, Autoren, die mich hierbei begleitet haben? Das wäre nun etwas langwierig darzulegen, doch ich kann dir einige der ersten nennen, die ich gelesen habe, und die nun, da ich sie alle wieder gelesen habe, die zuletzt Gelesenen sind – nämlich Majakowski, Chlebnikov und viele andere, die im „Streuender Hund“ (Brodjaãaja Sobaka) ein und aus gingen, dem Künstlercafé in Sankt Petersburg. Ich glaube, dass hier, jenseits des sehr verschlüsselten poetischen Futurismus der Russen, ein kommunikativer Wille zu finden ist, der Stimmen und Leben einzufangen und freizusetzen sucht. In Chile hat mich zum Beispiel Pablo De Rokha, insbesondere sein Buch “Escritura de Raimundo Contreras” (‘Das Schreiben von Raimundo Contreras’) begleitet; ebenso das Werk des Peruaners José María Arguedas hat mich dahingehend ausgerüstet, viele andere Lektüren miteinander ins Gespräch kommen zu lassen, die womöglich noch weitaus stärker in meinem Werk zum Vorschein kommen, etwa das mündliche Register sowie Teile der chilenischen und lateinamerikanischen Avantgarde.

RB: Deine Arbeit birgt nicht nur vielstimmige Räume, in oder aus denen die unterschiedlichsten Stimmen zu uns sprechen – die Stimmen „des Volkes“ und, wie wir eben umrissen haben, ebenso die Stimmen anderer poetischer Werke. Das ist aber doch noch mehr: Deine Arbeit ist performativ. Einerseits setzt du dich körperlich für das Wort ein. Auf der anderen Seite begreifst du, wenn du auf die Bühne trittst, das Wort, – und nicht so sehr dein Wort, sondern das Wort im Sinne eines formbaren und natürlich auch wiederverwertbaren Rohstoffs, als einen Impuls, der dich zum Ablaufen der Bühne drängt, und so ein kommunikatives Setting mit dir selbst und dem Publikum herstellen lässt. Ich denke hier an ein bereits klassisches, zumindest auf der Latinale 2008 sehr gut angekommenes Gedicht mit dem Titel „Aber er will nicht“. Ein Text von großer körperlicher und moralischer Insistenz, ein schlichter und doch zugleich scharfer Aufruf, der eine bemerkenswerte Kadenz besitzt und dessen Trick darin besteht, die Bausteine eines sozialen Bestiariums umzukehren, nämlich Hund und Schwein:

“Aber
er
will
nicht
sterben
wie
ein
hund
niemand
will
sterben
wie
ein
hund
jeder
mensch
verdient
es
nicht
wie
ein
hund
zu
sterben
er
hat
gelebt
wie
ein
schwein
und
will
nicht
sterben
wie
ein
hund”.

Könntest du dich dazu ein wenig äußern? …

YG: Obwohl ich weder ein indifferenter noch unsensibler Leser meiner eigenen Texte bin, folgt die jeweilige Aufführung meiner Gedichte keiner bewussten oder systematischen Arbeitsleitlinie. Von Anbeginn, als ich meine Texte öffentlich vortragen musste, habe ich mich schnell von dem Zwang befreit, daran zu denken, wie sie aufgeführt werden könnten, wie sie zu „singen“ seien, und überließ es dem Lauf des Augenblicks, den wirkungsvollsten Weg oder die wirkungsvollste Suche einzuschlagen, mit dem das Innere und das Äußere des Gedichts mitzuteilen wäre. Jede Lesung birgt den Drang, die mentale und emotionale Partitur zu finden, mit der im jeweiligen Moment die Gedichte, die Stimmen aufgesammelt, aufgenommen oder ausgedacht wurden. Manchmal werden sie im Vertrauten gelesen, dann wieder übertrieben vorgetragen, oder auf verwirrende Weise unterstrichen. Ich sammele und lege nicht nur bewundernswertes, gelungenes oder beispielhaftes Leben und Geschrei übereinander, sondern auch solche Stimmen, die ich mit Inbrunst verachte, die mich fesseln, weil sie in den Antipoden meiner Glaubenssätze oder Apostesien liegen und die ich ohne diesen gesamten – klanglichen wie textuellen- Aneignungsprozess gar nicht im Gedicht ausfindig machen kann. Das ist kein mimetischer Prozess, da gibt es keinen Nachahmungswillen gegenüber der „ursprünglichen“ Quellen. Da ist weder Kalkül noch Abklatsch; das Ganze läuft vielmehr über die Übertreibung, die Vergrößerung, und zwar deswegen, weil das Gedicht über die Fiktion, über die Verzerrung – also mithilfe der Metapher – überhaupt erst einzelne, entscheidende Funken des „Wirklichen“ ausmachen kann. Und unter der Gefahr, das Gedicht, das du zitierst, zu zerstören, indem ich es erkläre, kann ich dir erzählen, dass es aus einem Fragment von jemanden sehr Ehrwürdigen stammt und wiederum jemandem in den Mund gelegt wurde, der zu den reichsten Personen – und Familien – dieses Landes gehört, den Besitzern der Zellulosefabrik „Arauco“, jenem Unternehmen, dass erwiesenermaßen für die Kontamination des Naturschutzgebietes Carlos Anwandter in Valdivia (Chile) verantwortlich ist, die sich vor einigen Jahren ereignet hat. Das erste Mal, dass ich den Text las, war ein Freund dabei, ein großer Autor und bereits verstorbener Performancekünstler, Pedro Lemebel. Er gab mir eine Liste anderer Namen und Stimmen, auf die dieses Gedicht genauso gut passte. Aufgabe zur Zufriedenheit erledigt, dachte ich, das Gedicht ist so wendig, dass es sich eben jenseits seiner einstigen Bestimmung und seines ursprünglichen Sinns fortbewegen und remastern kann. Du wirst dir aber denken können, dass ich so naiv nun auch wieder nicht bin. Aus Gründen meiner Aus- und Miss-Bildung als Anthropologe sowie all dem, was ich dir bereits dargelegt habe, haben mich schon immer all diejenigen interessiert, die diese ganzen Mäander ablaufen. Die orale, die „verstörende“ Laut-Dichtung ist mir überhaupt nicht fern, ich folge ihr und besorge sie mir – aber eher als Wissenschaftler, als „Lese-Hörer“. Womöglich ist all dem zu verdanken, dass ich auf den großen Helmut Heißenbüttel stieß – um einen Landmann von dir zu zitieren–, oder, bevor ich nach England ging, auf den Dichter, Rocker, Punker und immer noch-Revoluzzer Mauricio Redolés, mit dem ich sogar noch eine Oralliteratur-Platte aufgenommen habe (die allerdings noch nicht erschienen ist) .

RB: Yanko, neben dem performativen Aspekt deines Werks, das darüber also zu einem immer wieder im Entstehen begriffenen und kollektiven Werk wird (und das Publikum dahingehend einbindet, dass dieses das Wort zu ‘spüren’ und zu ‘erleben’ beginnt), ist da noch etwas anderes, was mein Interesse weckt: Wie viel Einfluss haben die internationalen historischen Avantgarden und auch Neoavantgarden auf dich? Fließen in dein poetisches Schaffen objets trouvés ein, zum Beispiel, sowie andere Schlüsselbegriffe und -Praktiken der (Neo)-Avantgarden?

YG: Das hat alles damit zu tun, dass ich besessen bin von allem Zukünftigen, mehr noch als vom Experimentellen, denn ich glaube fest an die Instabilität des Gedichts. Der historische Kontext, in dem ich zu schreiben beginne – also die letzten Jahre der chilenischen Diktatur – und meine bald darauffolgenden politischen und literarischen Interessen fließen schließlich in meinem Studium der Anthropologie zusammen. Die Anthropologie wird mir dabei helfen, zu begreifen, dass Dichtung nichts Wesentliches eignet (wir können sie nicht definieren und uns fragen: Was ist sie?), sondern dass sie auf der Gelegenheit fußt: Wir wissen, wann Poesie stattfindet und wann nicht, je nach dem historischen und kulturellen Augenblick, in den sie sich einschreibt, in dem sie geschrieben wird oder erklingt oder gar holographiert wird, oder was auch immer die Form der Zukunft sein wird. Mir ging es in dieser Epoche darum, einen stimmigen Schluss zu ziehen, der jedoch auch mit einer sehr reichhaltigen, „sozialen“ Tradition zusammenhing, sowie mit der „experimentellen“ Seite der chilenischen wie auch lateinamerikanischen Dichtung. Das Problem war damals nur, wie das zu bewerkstelligen war, ohne in “das Gedicht als Sache für sich” zu verfallen oder dumpf den avantgardistischsten Werken der achtziger Jahre nachzutrotten. Mir ging es nicht so sehr darum, die politische, konzeptuelle oder auch militante Bewegung dieser Poetiken aufzufangen (in diesem Sinne finde ich mich auch in der Idee von Enrique Lihn nicht wieder, dass man schreibe, um es nicht wie die anderen zu machen). Mich begannen ganz ungemein diese vielen Schreibvergangenheiten zu interessieren, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen, ihnen etwas zu erwidern, in sie einzugreifen. Und doch habe ich auch immer wieder versucht, diesem Erbe anarchisch zu begegnen, sie mit anderen Genres und Diskursen zu kontaminieren, und zwar vor allem mit dem Diskurs, den ich aus den Sozialwissenschaften kannte und der Licht und Schatten in ganz andere Zonen brachte. In “Metales Pesados” ging ich etwa der These nach, dass sich das Trugbild des Übergangs in die Demokratie (“transición”) über die Domestizierung der Jugend aufrechterhalten konnte. Die Jugendlichen waren schon ihres demographischen Gewichts wegen oder aus Gründen ihrer Politisierung und ihres aktiven Kampfes wegen diejenigen, die der Diktatur das Handwerk gelegt hatten, so dass sie auch zur größten Gefahr für die neuen, „demokratischen“ Eliten wurden. In dieser Operation, die widerständigen Kräfte der Jugend zu deaktivieren, sah ich das Faule der “transición” und nahm deswegen auch an, dass, wenn ich diese Stimme in all ihrer Rohheit zu ethnographieren und zu fiktionalisieren begann, die Dichtung wie keine andere Gattung in diese so verschwiegenen Zonen unserer so furchtsamen, langwierigen und „heiligen“ „transición“ würde vordringen können.

RB: Erzähl uns ein wenig von deinem Projekt “Torpedos” – was in chilenischem Spanisch Spickzettel bedeutet. “Torpedos” widmet sich diesen Erinnerungshilfen, diesen Notizen, für die es auf Spanisch wirklich viele schöne Bezeichnungen gibt, – von „acordeón“ in Mexiko bis „trencito“ (‚kleiner Zug‘) in Uruguay. Du befasst dich mit diesen geheimen Waffen, die gegen das Erinnerungsdiktat in den Lehrräumen eingesetzt werden, gegen dieses Regime, das vorgibt, man müsse auswendig gelernte Daten parat haben (und ausspucken können), um eine Prüfung zu bestehen. Als eigentlich altbewährte Tradition finden sich Spickzettel heute natürlich in Form elektronischer Dispositive (und haben somit ihren Charme verloren?). Torpedos” beginnt mit einem wundervollen Epigraph: “Ich habe es auswendig vergessen”. Gezeichnet: B. Lerner. Wer ist B. Lerner, was auf Deutsch ja heißt: ‚der, der lernt‘? Und wovon erzählen deine Spickzettel?

YG: So etwas Seltsames! Das war mir gar nicht aufgefallen. Tatsächlich, ‚der, der lernt‘… Ja, also, es handelt sich um Ben, Ben Lerner, ein hervorragender Dichter der mir, ohne es zu wollen, dieses Motto vermacht hat, das meiner Meinung nach bestens auf den Punkt bringt, worum es bei den „Torpedos“ geht, bei diesem „Buch“ – in Anführungsstrichen, denn ich habe noch keine Ahnung, welches Format es einmal annehmen wird -, an dem ich seit mehreren Jahren arbeite. Strenggenommen sind die „Torpedos“ Text-, Bild- und Materialminiaturen, in denen sich diese Besessenheit ausdrückt, die ich dem Prospektiven gegenüber empfinde. Da ist ein Beharren darauf, dass das Gedicht immer aufrecht geht, sich niemals niederzulassen, immer unterwegs zu sein habe, manchmal sogar im Eilschritt. Oder um es mit Charles Simic zu sagen: Dichtung gleicht einem Banküberfall. Es geht darum, einzubrechen, die Stimme zu erheben, die Beute an sich zu nehmen und abzuhauen. Da ich mich schon immer für die visuelle, mündliche, performative und Objekt-Dichtung interessiert habe, also für die Dichtung, die zur Bewegung verurteilt ist, war der Weg quasi vorgezeichnet. Die Voraussicht von „Torpedos“ bezieht sich, wie du ja auch bemerkst, auf den Überdruss gegenüber so mancher kultureller Aufgaben, wie eben dem Auswendiglernen, dem Lehren und dem systematischen Einhalten-Müssen von Zielvorgaben und anderen Erwartungen, so, wie es in vielen formellen Lehreinrichtungen vonstattengeht. Also scheint hinter diesem Werk ein Ärger auf über das Auswendiglernen-Müssen irgendwelcher willkürlicher kultureller Inhalte – die so willkürlich sind wie alle anderen kulturellen Inhalte -, nur, um einen Lebenslauf einzuhalten und zu erfüllen und „etwas im Leben zu werden“. Eine Weile dachte ich, dieser Überdruss könne auf keinen Fall großspurig erläutert werden, indem der Status der für das Leben „wesentlichen“ Inhalte, die man dir beibringt, selbst aufgeführt würden. Ich war der Meinung, man müsse genau andersherum vorgehen, vom Prekären und Betrügerischen aus, also eben darüber, was die Spickzettel – oder die “chuletas” (neben ‚Spickzettel‘ auch: ‚Kotelett,‘ Flicken‘,‘ Frechheit‘), wie man in Spanien sagt, ja darstellen: Über ein sehr schlichtes Handwerk führen sie die Tatsache ad absurdum, etwas auswendig lernen zu müssen, um sich im Leben „verwirklichen“ zu können. Zu Beginn sah ich in den “Torpedos” den einzigen Ausweg für meine theoretischen und schriftstellerischen Obsessionen. Die Dichtung als mikroskopische Anthropologie, die Schrift als kümmerliche Skulptur, als Erinnerungsprothese, als Verkleidung und Fallstrick. Dann wurde mir klar, dass der Augenblick weitaus wichtiger war als diese ganze theoretische Aufgeblasenheit. Das heißt, dass all das plötzlich zweitrangig wurde gegenüber dem wesentlichen, sinnlichen Augenblick, der nichts anderes als der Akt des Schreibens ist, zu dem aber jener hinzukommt, in dem du mit deinen eigenen Händen ein Gedicht herstellst und umgestaltest. Ein Augenblick in dem ich, wie gesagt, und ich wiederhole es gleich noch einmal, begriffen habe, dass ein Gedicht nicht ein Was sondern ein Wie mitteilt.

RB: Könntest du uns im Zusammenhang dieses Spickzettel-Projekts wie auch in Bezug anderer Teile deines Werks etwas von den meta-poetischen Seiten deines Schreibens erzählen? Seine Intermedialität… der Einfluss des Kinos zum Beispiel, der Musik (ich zitiere mal: “Bola de Nieve, „Vete de mí..“; H. Nilsson, „Without you..“, L. Cohen, „…a thousand kisses deep, […]”). Dein Werk ist sehr ‚durchlässig‘…

YG: Poesie ist ein Bettel-Genre, das an allen möglichen Orten Ansichten und Erfahrungen zusammenschnorrt. Aus der Müllhalde der Kulturindustrie, des akademischen und auch des Fachwissens sowie aus der Literatur selbst natürlich ergibt sich wirklich ein fruchtbarer, an Quellen reicher und zudem gut zugänglicher Fundus. Trans-, Inter- und Multimedialitäten gehören zu den festen Bestandteilen der Dichtung unserer Zeit. Ich glaube, ich habe bislang nur ansatzweise aus diesen Möglichkeiten und Medien geschöpft. Doch an guter Absicht hat es nicht gemangelt. In jedem meiner Bücher habe ich nach einer Antwort auf die Stimmen gesucht, die für diese Bücher jeweils Paten standen. In “Metales Pesados” sind viele der Quellen, aus denen ich schöpfe, mündlicher, musikalischer oder lautlicher Art, dazu kommen Verweise in den Fußnoten, die der Hauptstimme der Gedichte den Rang abzulaufen versuchen und sie letztlich kolonisieren. In “Alto Volta” findet sich eine Arbeit an historischen Quellen und Dokumenten, in denen es um Nationalismus, Fremdfeindlichkeit und -freundlichkeit geht; die Idee war, Texte wie graue Echos auf diese Zitate und Quellen antworten zu lassen, nicht so sehr, um dem Gedicht seine Rolle wirklich abspenstig zu machen, sondern um es zu verformen. So kommt es, dass in manchen Fällen am Rand oder oberhalb der Gedichte bleigrau gesetzte Textfragmente hinzugefügt sind. In „Elábuga“ waren die Stimmen vertrauter, und ich entschied mich dafür, die Innenseiten des sehr großen Buchdeckels in eine Mauer zu verwandeln, auf der unterschiedliche Dichter und Dichterinnen einen Nachruf auf mich hinterlassen sollten. In “Torpedos” bestehen viele Quellen gar nicht aus Text, sondern sind materiell und alltäglich, sie finden sich jeweils in dem Gegenstand referenziert, auf den sie niedergeschrieben sind. Ich weiß nicht, aber ich fürchte, in meiner Gedichteküche gibt es so viel Geheimnis gar nicht. Wenn ich mich mit ihr befasse, beobachte ich, frage ich, höre hin und notiere wie wild, ich nehme mir viel Zeit für die Recherche und die Transkription und verfasse dann allzu viele Versionen von Gedichten, die oftmals erst zehn Jahre später veröffentlicht werden. Doch was soll die Eile? Ich muss es ja nicht von einer in die nächste Klasse schaffen, noch Klassenbester werden, noch irgendein Diplom bekommen. Außerdem erwartet ja gar niemand, dass du ein Buch schreibst. Womöglich wird sogar das Gegenteil erwartet, oder? Die Leute ertragen doch gar keinen weiteren Gedichtband. Und ehrlich gesagt fällt es mir schwer, ihnen Unrecht zu geben.

RB: Yanko, seit Wochen sind wir (was für ein komischer Plural, wenn wir bedenken, wie sehr diese weltweite Krise Segregationen und Diskrimination hervortreten lässt) –, also… sind wir als ‚Menschheit‘ gerade damit befasst, über den Tod zu sprechen und Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen… „Elábuga“ unterdessen interessiert sich für die Maßnahmen, die den Tod oder vielmehr eine Art des Todes möglich machen, der eine ganz bestimmte Anatomie besitzt… Dieses im Jahr 2011 publizierte Buch erzählt von einer ganzen Selbstmördergalerie und von Tabu-Szenen – und macht sie öffentlich.
Es scheint, „Elábuga“ würde den Tod auf die Waagschale werfen – doch welchen Tod? ¿Ist der Tod “ein Streich gegen die Schwerkraft?”… eine Abkürzung …wovon? Wer in deinem Gedichtband wählt diesen Weg? Und: Ist denn der Suizid ein poetischer Akt? (ich zitiere: “ein poetischer Körper” in der “Abkürzung”, der das “richtige Gewicht“ besitzt, um der Welt „die Zunge rauszustrecken? “) Und noch eine Frage: Kann man sich denn in eine Schusswaffe verlieben und gleichzeitig Angst verspüren vor einem Körper, der „in der Küche baumelt“?

YG: Ja, weißt du, dieses Buch ist zu einer Art Gegengift in diesen Zeiten des Todes und der Endlichkeit geworden. Ein “mentaler Impfstoff” nicht nur gegen die Krankheit und den Tod, der die Welt bedroht, sondern auch gegen Krankheit und Tod in meinem ganzen nahen Umfeld. Denn im Vorfeld der Pandemie sind Freunde gestorben, hat meine Mutter ihren Lebenspartner verloren, wurde ich operiert und hatte eine langwierige und schmerzhafte Rekonvaleszenz, und nun ist meine Mutter in einem schwierigen Zustand, weswegen ich die letzte Zeit auf Friedhöfen und in Krankenhäusern verbracht habe. So kommt es, dass das, was dieses Buch zum Metaphorisieren sucht – sich etwa in eine Pistole zu verlieben, bis hin zur Erhängung, um “der Welt die Zuge rauszustrecken“, mir dabei geholfen hat, mich gegen diese verflixten Zeiten zu immunisieren. Es sind Zeiten, in denen man das Wort “Chance” bis zum Erbrechen oft zu hören bekommt, wenn doch die einzige Möglichkeit, die ich gerade sehe, die ist, zu erkranken, mitsamt der Wahrscheinlichkeit, zu sterben. Schau mal, von „Elábuga“ hatte ich bereits zehn Gedichte veröffentlicht, von den ungefähr 75, die ich insgesamt schrieb, sie erschienen in einem Buch-Objekt in limitierter Ausgabe. Diese Gedichte waren so etwas wie eine Handvoll Karten, die, obgleich sie das gesamte Kartenspiel vorzugeben schienen – angefangen bei dem Titel, der auf den Namen des Dorfes verweist, in dem sich die russische Dichterin Marina Tsvetáyeva das Leben nahm -, es zugleich verbargen. Damals (das war im Jahr 2011) ging ich auf das Thema des Buches ein und darauf, was diese Texte in meiner eigenen Biographie bedeuteten, und auch, wie sehr ich mit dem Thema zu tun hatte, also dem freiwilligen Tod durch Erhängung. Ich war vor allem darum bemüht, klarzumachen, was diese Art des Selbstmords materiell und symbolisch bedeutet. Wie du ja wahrscheinlich gelesen haben wirst, ist eine der das Buch antreibenden Ideen diejenige darüber, dass der Erhängte seinen eigenen Tod in die Verlängerung seines Lebens einschreibt, insofern er den Hinterbliebenen seinen Körper als Repressalie überlässt. Denn sein Körper ist ja noch aufrecht wie der eines Lebenden. Da wird der Schwerkraft ein durchaus schwerwiegender Streich gespielt. Mit dieser überschaubaren Anzahl an Gedichten blieb der Gedichtband vielen Möglichkeiten gegenüber offen, die ich die ganzen letzten Jahre über durchspielte, bis ich in England einen Schlusspunkt daruntersetzen konnte. Doch dieses Buch ist aus vielerlei Gründen von ganz anderer Machart als die vorherigen Bücher. Einerseits, weil mich schlichtweg das Schreiben daran sehr glücklich werden ließ. Was da als Reinigung von Schmerz gedacht war, verkehrte sich zuerst, führte zur Rückkehr an eine Wunde, bis ich beschloss, nicht weiterzumachen und alles hinzuschmeißen. Zum Teil aber durch das Interesse von Vicente Undurraga – dem Verleger von Lumen – und teilweise auch bedingt durch meine Ausreise aus Chile [um meinen Post-Doc Aufenthalt in England anzutreten, R.B.], nahm ich mir das Projekt wieder vor, allerdings nun mit einem ganz anderen Blick auf das Schreiben und mein eigenes Leben. Und obgleich da ein neuer Horizont war, verwarf ich die Striktheit, das Programmatische des Buchs, und ganz vorrangig auch die Autorität, die die Traurigkeit ausübte, um vielmehr das zu sagen, was die Gedichte zu sagen hatten. Als dies nun, ohne mich an eine vorgefertigte Ordnung zu halten, oder mich dem „Ich“ der trauernden Seele zu unterwerfen. Und so wandelte sich das Buch von Mäander zu Mäander führend in eine chorale Biographie der Erhängung, erzählt von vielerlei zusammengesammelten Leben, von denen ich aus Erzählungen und aus Dokumenten erfuhr. Leben, die, indem sich für die Selbsterhängung entschieden, auf den Abgrund oder die Selbstbefreiung zugesteuert waren; Leben, die das Leben verlassen hatten wie – um Lukrez zu zitieren – ein von einem Mahl „gesättigter“ Gast.

RB: Yanko, dein Werk ist eine riesige Kartographie: Kannst du uns neben den (oftmals chiffrierten, verdeckten, zumindest meist abgekürzten) Figurennamen auch etwas zu den Ortsnamen sagen, die darin vorkommen? ‘Elábuga’, zum Beispiel? ¿Wieso haben deine Gedichtbände keine Titel, die von Chile sprechen?

YG: Womöglich liegt das daran, dass außer dem Titel des genannten Buchs alle Gedichte – wenn auch auf chiffrierte, irreführende Weise – ein ums andere Mal auf mein dünnes, von den Kordilleren der Anden und dem Meer stranguliertes Land zu sprechen kommen. Vielleicht ist das auch eine Art Vorgehensweise, Chile immer wieder in ein fremdes Land zu verwandeln, um klarzumachen, dass das, was du hasst – oder liebst – eben keinen festen Ort auf der Welt hat.

RB: Eine letzte Frage, die mit der aktuellen globalen Situation zu tun hat, angesichts derer wir nicht wissen, wie hoch die Kosten dafür sein werden, dass wir ‚unseren Hals retten‘… Sprich doch bitte über “El lenguaje es un virus que viene del espacio /“ [das Burroughs-Zitat “Sprache ist ein Virus aus dem Weltall”, R.B. ], sag etwas zur DNA dieses Gedichts und verrate uns, wie es endet.

YG: Ein alter Dichter hat einmal gesagt, das Paradies stecke voller Leute, die Gedichte lesen, die Hölle wiederum sei vollgestopft mit solchen, die Gedichte erklären. Genau das habe ich nun das ganze Interview lang getan. Ich fühle mich irgendwie schuldig, in der Meinung, dich und alle vertrauensseligen Leser dieser Antworten durch diese Erklärungshölle gehen zu lassen. Liebe Rike, ich habe eine irrsinnige Angst, meine Nächsten, und die, die als Nächstes kommen, zu langweilen. Womöglich wäre es besser, dieses Gedicht im Freien zu lassen, allein und ungeschützt inmitten der Pandemie, und dabei zuzusehen, ob es seine Schluss-Syntax überlebt.

RB: Danke, Yanko.

YG: Ganz im Gegenteil, seit jeher und auch jetzt wieder, in dieser „Gegenwart“, habe ich dir zu danken.

Die Originalversion des Poesiegespräches auf Spanisch finden Sie auf der Englischen Seite.