Georg Leß spricht eine Knochensprache. Der Bruch ist Versende und Verbrechen. Die Sammlungen davon: anatomische Systeme, Schauergeschichten. Die Menschen sind mager, was hervortritt, sind (erstaunlich, hören Sie mal!) die Längen und Kürzen der einzelnen Wirbel. Bleiben wir hängen, an jedem einzelnen – und im Genick hängt der Strick.
„Die Farbe des Muts ist rot, / Weil aus ihm Liebe tropft / Oder Blut.“ – Die Gedichte von Dilek Mayatürk sind körperliche, erhitzte Gebilde, die ihre Kraft aus ihrer Verletzlichkeit schöpfen. In einer stark bildhaften Sprache rufen sie Erinnerungen auf und versichern sich ihres Gegenübers. Das Gedicht »Life does not lie«, (übersetzt von Caroline Stockford) stammt von dem türkischen Lyriker İlhan Çomak, der seit 1994 im Gefängnis sitzt und mit dem Dilek in brieflichem Kontakt steht.
In seinem Gedicht »Gegen den Tod II« schreibt Thien Tran: „und normal, das ist in unserem Fall / das Universum“. Wenn es darum geht, gegen den Tod die Normalität zu schreiben, weil sie alles enthält, dann ist das auch eine Versicherung. Das sind sich wiederholende Szenen seltsam unaufgeregter Alltäglichkeit, in die sich gleichsam die Tragik schleicht, sie nicht bewältigen zu können. – Eine geglückte Tragik, sonst hätten wir nicht diese Gedichte. Ron Winkler hat vergangenes Jahr eine posthume Sammlung des 2010 im Alter von 31 Jahren verstorbenen Lyrikers im Elif-Verlag herausgegeben. Aus dieser liest er hier eine Auswahl. Von Thien Tran erschien zu Lebzeiten nur ein einziger Band: fieldings (Verlagshaus J. Frank, 2009).
In ihrem Gedicht »nach hause« schreibt Judith Zander von den „innenrauminstrumenten“. Solche Innenrauminstrumente sind auch ihre Gedichte: Werkzeuge zum Ertasten von Zuständen, Raumatmosphären, in denen die Klänge sich fortpflanzen und lagern wie Schichten, verklebter PVC-Boden oder Klickparkett. Verlegen die Verse die Nacht, einen Schlaf, was liegt uns, isoliert, grade näher als Lagen von Decken; und trotzdem bleibt etwas heimlich unverhofft: ein Heimchen.
Aurélie Maurin ist eine Troubairitz: Sie spielt ihre Chansons bei Lesungen und Literaturfestivals. Im Gepäck hat sie kleine Songs und Vertonungen von Gedichten mit Gitarre oder Akkordeon aus brasilianischen und französischen Welten. Im Herbst wird sie bei Wunderhorn eine Anthologie mit gesammelten Gedichten des 1918 an der Spanischen Grippe gestorbenen Guillaume Apollinaire herausgeben: Apollo 18. Hier spielt sie eine Vertonung des Apollinaire-Gedichts »Allons plus vite« (»Gehen wir doch schnelle«) – ein Spaziergang durch eine melancholische Nacht. Das Filmmaterial stammt von dem Regisseur David Wagner. »La malinche«, der zweite Titel, ist ein mexikanisches Volkslied (»La Ilorona«, »Die weinende Frau«) und eine Ode an die Übersetzerin La Malinche aus dem 16. Jahrhundert, eine der ersten transkulturellen Grenzgängerinnen. Seit den 1980er Jahren ist sie zur Referenzfigur von poststrukturalistischen, feministischen und postkolonialen Theorien geworden. Und bis heute lebt sie als Gespenst weiter: Viele Kinder am Golf von Mexiko erzählen, sie hören sie nachts weinen…
Es kommt hart und hart und alles zusammen: Berlin, Bangladesch, New York, Bevölkerungswachstum, Kernschmelze, Erderwärmung, Ressourcenkapitalismus und Fluchtkatastrophe. Messbare Prozesse mit eingeschweißten Erdnüssen, und wir, das sind Körper in Abgrenzung und Verschmelzung mit einem Hang zur müden Erhitzung.
Projektleitung: Rudi Nuss | Felix Schiller | Saskia Warzecha
Mit Tim Holland, Georg Leß, Dilek Mayatürk, Ron Winkler (Deutschland), Thien Tran, Judith Zander, Aurélie Maurin
Poets’ Home (Corners) wird freundlich unterstützt durch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg; die Bezirkszentralbibliothek Pablo Neruda; das Instituto Cervantes Berlin; KUIR – queere lyrik in berlin; das Bezirksamt Treptow-Köpenick, Fachbereich Kultur und Museum; MoBe Moving Poets Berlin e.V.; die NOVILLA. Internationales Zentrum für Kunst, Kreativität und Begegnung; das Bezirksamt Pankow von Berlin, Fachbereich Kunst und Kultur; die Brotfabrik Berlin; das Bezirksamt Spandau zu Berlin, Fachbereich Kultur; die Zitadelle Spandau; das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin, Fachbereich Kultur; Schoeler.Berlin und dem Bezirkskulturfonds der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.