Sonja vom Brocke beschreibt Flächen. Ihre Gedichte breiten sich als horizontale Broderien aus, in denen sie präzise gemischtes Material arrangiert. Die Flächen sind jedoch punktiert, haben Poren: Mineralisches, Organisches wie Mythisches stammt aus der Tiefe, ist teils verwurzelt.
Ihre neuen Gedichte aus Mush (kookbooks, 2020) sind „epidermisch verschwistert“ – Verwandtschaft an der Oberfläche ist keine Genealogie. Dennoch verbinden sich unterschiedliche Zeiten zur Gegenwart ihrer Gedichte. ,Mush‘ ist kein ,pulp‘, kein zerdrücktes Konzentrat, sondern homogene Masse, verbacken aus Heterogenem, heterogen wie das Anthropozän selbst und ebenso ambivalent: „hüpfe ich oder hänge ich an, formlos oder geballt.“ Vom Brockes Gedichte sind alles andere als formlos – aber geballt.
In den Gedichten von Anja Engst verheddert sich das Sprechen in klanglichen, dinglichen und tierischen Assoziationen. Geschriebenes Wort kommt so leichtfüßig und unverdächtig daher wie gesprochenes. Festnageln lässt sich allerdings nichts, alles entgleitet vielmehr und wird durchkreuzt. In diesen Schlaufen finden sich „Körpersymptome: Fingersatz / Bisswunden / Herzschmerz / Kopf.“
Wer archaische Schichten unter diesem verletzbaren, soften lyrischen Ich vermutet, hat nur halb Recht, denn „wer mit freud einen tanz tanzt findet sich auf wolkenkratzer / wieder.“ Dieses Ich ist nah am Traum, aber die Tiefenschichten führen zum „cover der vogue, zu kylie und kendall und kourtney.“ Und woran soll man glauben, wenn darunter nur Hochglanzmagazine liegen: „nihilist warst du nie nur nil hast du gerne geraucht.“
Mathias Traxler arbeitet in seinen Gedichten und Essays experimentell, sie sind auf keine Form festgelegt. Er bedient sich unterschiedlichen Sprachmaterials, das er mal fließend, mal stockend zu neuen Kontexten verschmilzt. Traxlers Quellen reichen von Minnesang über Dante zu Horrorfilmen.
Seine Lesungen sind ein textliches Maskenspiel: Was gelesen wird, findet sich entweder direkt vor Ort oder in diversen Büchern wieder, nur nicht in seinen eigenen. So ,liest‘ er beispielsweise zunächst das Publikum, indem er einzelne Personen beschreibt. Oder er geht darauf ein, dass es kein Publikum und keinen geteilten Raum gibt. Dafür gibt es ein Jojo – antikes wie zeitgenössisches Spielzeug, das sowohl historische wie konkrete Distanzen auslotet: nah und fern, da und fort. Der Bildschirm wird zum Umkehrpunkt.
Für Maru Mustrieva dienen Texte immer auch als Sprungbrett in andere Medien: ins Gesprochene, ins Rhythmische, ins Vertonte und ins bewegte Bild. Ihre Texte kreisen um sichtbare Oberflächen, um Wahrnehmungen und um das Erforschen von Schichten und Geschichten.
Ihre Texte für Poets’ Home (Corners) sind Teil eines längeren Zyklus’, der einen Chemieunfall von 1990 in Ufa (Baschkortostan, Russland) zum Ausgangspunkt nimmt. Was macht die Veränderung von Landschaften mit Communities: But we must make space for the new! // And the space for the new was made. Wie spiegeln sie die Veränderungen von Karten im Körper? Welche Spuren lassen die Veränderungen zurück: „In the blueness I see arthritis of my grandmother / I see hills and mountains of Bashkiria.“ Mushtrieva schafft Bilder, die keine Antworten geben, aber Annäherungen.
Dean Ruddock kommt vom Poetry Slam und aus der Musik. Seine Texte streben in andere Medien, vor allem Sound und Film. Das Bildliche ist seinen Texten eingeschrieben. Seine Filme sind poetisch, produzieren Bilder, die auch in Sprache übersetzt werden könnten, „Lungen / Flügel, eine Tür im Boden, mir wird schwindelig es dreht sich um mich“, sind genauso als Sprach- wie Filmbilder vorstellbar.
In »Soziale Influenza« werden ,Tropes‘ und Hülsen aus der Alltagssprache rekontextualisiert, kommentiert und hinterfragt. Dabei sind Stimmen nicht einfach Stimmen, Figuren nicht einfach Figuren, sondern komplex und intersektional. Ruddock konfrontiert gängige Diskurse mit ihren eigenen Widersprüchen. Assoziative Reime schaffen witzige, scharfsinnige Zusammenhänge: „fairtrade, grüner Tee / und ich hab theodizee.“
In den Gedichten von Maya Kuperman geht es häufig um Fragen von sprachlicher Zugehörigkeit, um die Mother Tongue, was zugleich der Titel ihrer 2007 auf Hebräisch erschienenen Gedichtsammlung ist. Seit Kuperman in Berlin lebt, schreibt sie auf Englisch.
»Is the ocean empty yet?« ist ein Liebesgedicht an ein abwesendes Du: „I am not alone / I am just without you.“ Der Schmerz über diese Liebe wird zur Landschaft und die reale Landschaft wird zur Metapher der Liebe: „climbing Teufelsberg in the snow / I never wanted to go down.“ In Kupermans Englisch scheinen europäische und hebräische Schichten durch. Abwesenheit, Flughäfen und Hotelzimmer als „our raft for the day“ – im Alltag dieser auseinandergerissenen Liebesbeziehung scheint noch eine andere Sehnsucht durch: nach einer anderen Sprache, nach einem anderen Land.
Projektleitung: Rudi Nuss | Felix Schiller | Saskia Warzecha
Poets’ Home (Corners) wird freundlich unterstützt durch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg; die Bezirkszentralbibliothek Pablo Neruda; das Instituto Cervantes Berlin; KUIR – queere lyrik in berlin; das Bezirksamt Treptow-Köpenick, Fachbereich Kultur und Museum; MoBe Moving Poets Berlin e.V.; die NOVILLA. Internationales Zentrum für Kunst, Kreativität und Begegnung; das Bezirksamt Pankow von Berlin, Fachbereich Kunst und Kultur; die Brotfabrik Berlin; das Bezirksamt Spandau zu Berlin, Fachbereich Kultur; die Zitadelle Spandau; das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin, Fachbereich Kultur; Schoeler.Berlin und dem Bezirkskulturfonds der Senatsverwaltung für Kultur und Europa.