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POESIEGESPRÄCH: ARIANA REINES

What. Now what?

Ungezügelt, durchsetzt mit amerikanischem Slang und getrieben von einem tiefen Interesse an okkulten Praktiken und spirituellen Transformationen: eine der derzeit radikalsten Auseinandersetzungen mit Sexismus, Thanatos und Spätkapitalismus. Im Gespräch mit ihrem Übersetzer Léonce W. Lupette.

Léonce Lupette: Vielen Dank für dieses Gespräch – es freut mich sehr, Sie trotz unterschiedlicher Formen von Ausgangssperre zwischen Cambridge und Buenos Aires treffen und mit Ihnen das Poesiegespräch für das poesiefestival in Berlin führen zu können …
Lassen Sie uns über A Sand Book sprechen, Ihren jüngsten Gedichtband, ein Werk von über 400 Seiten. Vor kurzem las ich über den Engpass an Sand als Problem für die Entwicklung eines Impfstoffs. Es ist paradox, dass Sand, ein Symbol für Unendlichkeit und Unzählbarkeit, zur Mangelware geworden ist. In Ihren Gedichten schreiben Sie viel über Wüstenbildung, wachsende Flächen unfruchtbaren Lands, wo zu viel Sand ist. Insofern besteht eine Spannung zwischen dem Tödlichen und dem Lebensnotwendigen, dem Überschuss und dem Mangel, und es sind solche Spannungen, die sich durch Ihre Texte ziehen.

Ariana Reines: Ja, der Sandmangel besteht schon seit einigen Jahren, weil auch die Fracking-Industrie Sand nutzt. Ich wusste nicht, dass er auch für die Entwicklung einer Covid- Impfung benötigt wird. Tatsächlich ist es ironisch, dass etwas, das wir uns als unerschöpflich vorstellen, nun dringend benötigt wird und zu einer Handelsware geworden ist …

LL: Welche sprachlichen und metaphorischen Verbindungen zu Sand gibt es über diese materiellen Aspekte hinaus? Der Titel Ihres Buches enthält einige vielschichtige Bezüge: Hurrikan Sandy, eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges, den Namen Ihrer Mutter, die Sandra heißt und die, wie Sie an anderer Stelle erwähnen (Ariana Reines Interview: The Impulse of Poetry, Interview von Christian Lund für Louisiana Channel, https://www.youtube.com/watch?v=r13mN0xGHzk), schizophren ist und während Ihres Studiums zu Ihnen ins Wohnheim zog, weil sie obdachlos geworden war; auch sie ist sehr präsent in dem Buch …

AR: Sand ist gewissermaßen ein Widerhall, eine Art Reim in der Welt, innerhalb und außerhalb der Sprache. Weil es der Name meiner Mutter ist; es ist der Name von Sandra Bland, die vom Staat ermordet wurde; der Name dieses Hurrikans, der in New York einen Übergang von der Zeit nach dem 11. September in diese 2012er Zeit danach bedeutete. Ihm ist also auch der Name einer Umweltkatastrophe eingeschrieben. Zudem steht der Titel in Gedenken an die Sandy-Hook-Schule, wo ein junger Mensch ein Massaker an Schulkindern begangen hat. Dieser Widerhall, dieser Reim existiert also innerhalb der Sprache und darüber hinaus. Da ist einerseits die Substanz Sand, aber es ist auch ein Echo.

LL: Sie eröffnen das Buch mit dem ersten Vers eines berühmten Gedichts von Paul Celan: KEINE SANDKUNST MEHR, kein Sandbuch, keine Meister. Das ist natürlich zunächst eine ironische Geste, da Sie uns ja genau das geben, ein Sandbuch; was bedeutet dieses Gedicht für Sie, was verstehen Sie unter dieser Sandkunst, dem Sandbuch, von dem bei Celan die Rede ist?

AR: Das Buch existiert auf unterschiedlichen Ebenen oder Schichten zugleich, und in gewisser Hinsicht ist es ganz sicher eine Antwort auf Celan. Eine spielerische Antwort, und dem Wenigen nach, das ich weiß, war er ein spielerischer Mensch. Wir vergessen, dass er das war, weil der Trauer und dem Grauen, über die seine Dichtung Zeugnis ablegt, so eine gewaltige Erhabenheit eignet. Aber meinem Verständnis nach war er eine spielerische und entzückende Person, in vielerlei Hinsicht. Ich denke, er hatte ein tiefes Verständnis von Ironie und Humor, und ich würde es wagen, zu sagen, dass wir einen jüdischen Humor teilen. Celan ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Dichter in meinem Leben, aus vielen Gründen. Als Person, die kein Deutsch liest, ist seine Übersetzungstheorie richtungsweisend für mich, ebenso wie seine Theorie der Muttersprache, denn er war natürlich nicht wirklich deutsch, aber das Deutsche war seine Muttersprache – obwohl er auch Versuche unternahm, auf Französisch zu schreiben, und auf Rumänisch. Er war polyglott und sehr gebildet, aber wie er zu sagen pflegte: „Nur in der Muttersprache kann man die eigene Wahrheit ausdrücken, in der Fremdsprache lügt der Dichter.“ Und trotzdem begrüßte er das Abweichende und die Vielfalt der Übersetzung. Da ist sowohl eine vollkommene Treue gegenüber dem Singulären, als auch das Begrüßen der Veränderung, beides zugleich. Damit fand ich mich immer im Einklang, denn da meine eigene Familie in der Shoah ermordet wurde, bin ich als Dichterin in gewisser Weise durch seine Poetik geboren worden. Diese Erfahrung von Sprache musste ich durchlaufen, um überhaupt beginnen zu können. Und mit ihm kam Adorno, der sagte, keine weiteren Gedichte nach Auschwitz. Den Gedanken dieser Männer, die nein sagen, bin ich also gewohnt. Ich würde Celan fast eine Vaterfigur nennen, aber damit begeben wir uns auf schwieriges freudianisches Gebiet, das könnte ein Fehler sein … Sagen wir, eine weitere Vaterfigur im Sand Book ist T.S. Eliot, und Borges ist natürlich auch einer der Väter, aber Celan war es, der dieses Buch in meinem Körper, in meinem Ohr angekündigt hat. Außerdem war Der Sand aus den Urnen sein erstes Buch, und dessen erste Auflage ließ er einstampfen. Sand aus den Urnen, das habe ich immer im Sinne einer Bestattung gelesen, und im Judentum legen wir natürlich einen Stein zur Bezeugung ans Grab, keine Blumen. Dann gibt es die Wüste, die Wüstenwanderung, und die sprichwörtliche Wüste, und die diasporischen und nomadischen Wege unseres Volks. Es besteht also ein Gefühl der Trauer darüber, zu Sand pulverisiert worden zu sein, und es gibt den Fels der Zeugenschaft, oder gar der Einheit einer Erfahrung, der Erfahrung eines Volks, zermürbt worden zu sein. Diese Dinge hallen sehr stark in mir wider. In meinem ersten Buch (The Cow, Hudson: Fence Books, 2006) geht es um Mutterschaft und industrielle Schlachtung, und es war ein Versuch, mit der Moderne und der Shoah abzurechnen, durch das Trauma meiner Mutter, und dieses Thema zieht sich durch alle meine Bücher, auch durch dieses. Also ja, Celan könnte nicht wichtiger sein.

LL: In Deutschland könnte man von einer gewissen Zurückhaltung ausgehen, was das Betonen des Humors bei Paul Celan betrifft, seiner Wortspiele oder Witze. Andererseits scheinen nicht wenige Deutsche stets eine Art Erlaubnis von Jüdinnen und Juden zu suchen, weil sie jetzt endlich auch über jüdischen Humor bzw. die Nazizeit lachen wollen, als wäre nichts geschehen.

AR: Für eine deutsche Leserschaft, vor allem für eine nichtjüdische, mag es schwierig sein, diesem Humor überhaupt emotional nahezukommen, weil viele ebenfalls traumatisiert sind aufgrund der Taten, die ihre Großeltern begangen haben. Auch würde ich Celans Gedichte nicht unbedingt witzig nennen. Ich meinte eher, was über ihn als Person überliefert ist, wie er zu seinen Freunden war, oder auf Partys. Was seine Gedichte mit Sprache tun – da gibt es eine Verschmitztheit, eine Rauheit, manchmal eine entsetzliche oder entsetzte Heiterkeit. Aber auf dem Papier ist er nicht Mel Brooks. Vielleicht ist es keine schlechte Sache, wenn es für viele Deutsche noch immer schwierig ist, über die Shoah zu lachen, denn es ist ja überhaupt nicht witzig und auch nicht lange her. Also ich mache die ganze Zeit Witze darüber, aber das tue ich, weil mein Überleben davon abhängt!

LL: Sie erwähnen verschiedene Vaterfiguren, die nein sagen. Sollte Ihr Buch dementsprechend auch als feministischer Akt des Sprechens, des Widerspruchs gegen das negative Diktum verstanden werden?

AR: Nein, das wäre zu wenig, das hätte man vor dreißig Jahren getan, einfach zu zeigen, dass es möglich ist, zu sprechen. Unter den heutigen Umständen sind andere Dinge relevant. Es zeigt eher einen natürlichen Prozess. Und eine Art Familienbeziehung zu der ganzen Tradition, innerhalb der Poesie selbst. Dass wir sprechen können ist also nicht das, was wir beweisen müssten. Es ist spielerischer als das. Das Interessante am Fortschreiten der Zeit ist, dass es seit jeher diese Autoritätsfiguren gegeben hat, die sagen „So, hiernach nie wieder.“ Mohammed hatte viele Visionen in jener Höhle, und zu einem gegebenen Zeitpunkt musste er sagen: „Meine Visionen sind gültig, aber nach mir keine weiteren Visionen.“ Ich frage mich, wie viele Personen auf den Berg Sinai gestiegen sind, um zu sehen, ob sie hören können, was Moses hörte. Zur Struktur von Autorität gehört es, zu sagen: „HIERNACH NIE WIEDER“. Dennoch ist es auch ein Vorgang von Trauma, von Grauen. Es gibt immer diesen Vorgang in der Geschichte, wo Menschen spüren, dass sie so viel durchlitten haben, dass mit allem Schluss sein muss, dass es keine Gedichte mehr geben kann. Und natürlich ist dieses keine Gedichte nach Auschwitz auch wahr, weil die Seele der Menschheit ein so entsetzliches Trauma erlitten hatte, dass Nein!; in gewissem Sinne wurde die Poesie ermordet, und ich stimme dem zu, ob es nun darum geht, keine Gedichte mehr nach Hiroshima zu schreiben, oder nach der Masseneinkerkerung, oder nach dem atlantischen Sklavenhandel, oder nach der Vernichtung der Ureinwohner. Diese Traumata sind dermaßen groß, dass die Neins unserer Väter legitim sind, selbst wenn ich diese Neins bewusst etwas verdrehe, um ihnen zuzustimmen. Etwas in mir sagt „Ja, keine Gedichte mehr danach!“ Nach der Atombombe – wenn es wirklich darum geht, Zeugnis über diese Dinge abzulegen, dann bin ich mit diesem Nein einverstanden. Das ist ein Teil unserer Seele, unabhängig von unserem Geschlecht. Das Ich kann nicht weitermachen, wie es bei Beckett heißt (Becketts Roman Der Namenlose endet mit den Sätzen: „Ich kann nicht weitermachen, ich werde weitermachen.“). Wenn wir uns tatsächlich dem Ausmaß dieser Traumata stellen, wären wir einverstanden: Einfach zu schweigen, wäre die beste Antwort. Das Leben indes geht weiter, und weiterhin entfaltet sich die Seele. Diese Erfahrung geht über das Geschlecht hinaus. Diejenigen, die unsere Kultur so eingerichtet haben, wie sie ist, versuchten, eine Grenze zu ziehen bezüglich über das Trauma hinausgehender Erfahrung, und alles, was diese Grenze überschritt, sollte auf irgendeine Art eingedämmt oder gezähmt werden. Sie versuchten, es unter Kontrolle zu halten, während die Seele in diesen Momenten des Zusammenbruchs immer über dieses Nein hinausgehen wird. Und in der Geschichte, in so vielen Mythen und Legenden, ist die Seele immer Frau, immer weiblich, das ist einfach ein Aspekt des menschlichen Daseins, dieser Impuls, der darüber hinausgeht und das Leben findet, unter allen Umständen.

LL: In der Hinsicht hat Ihr Buch mich an vielen Stellen überrascht, weil es so lebendig ist. Es ist ein starkes Zeugnis vieler historischer und persönlicher Traumata, die mehr als schwer zu überwinden sind, und dennoch entfaltet sich dieser Rhythmus. Auf der einen Seite ist da dieses tiefe, tiefe Leid, aber auch, wie Sie sagen, das Verspielte, immer sehr bedeutungsvoll, aber nicht überaus transzendental.

AR: Dem stimme ich zu. Es liegt etwas in allzu mystischer oder transzendentaler Dichtung, das mir selbst widerstrebt. Dabei gibt es Leser, die mich zu transzendental finden. Die Lyriker, denen ich als junge Autorin begegnete, zählen zur New York School, sie sind sehr anti-transzendental, und ich hatte Glück, dass sie die ersten Dichter waren, die ich las, denn diese Tendenz in mir, die Verbindung zu numinosen Erfahrungen zu suchen, kann auch in schlechter Kunst münden, kann die Wahrnehmung nachlässig werden lassen und zu einer gewissen Ungenauigkeit führen. Als Künstler muss man dafür sorgen, dass das Werk lebendig bleibt. Es gibt zweifellos schlechte spirituelle Lyrik, wenngleich sich nicht leugnen lässt, dass einige der größten Dichtungen mindestens metaphysische Aspekte aufweisen, wenn wir etwa an Dante denken oder an diese großartigen Gedichte über die Hierarchien in Himmel und Hölle, oder an die Heiligen Sonette (Die Holy Sonnets sind ein Zyklus geistlicher Gedichte von John Donne aus dem 17. Jhd.), aber auch alles von Emily Dickinson bis Kendrick Lamar. Es gibt einen Impuls, den der Rhythmus selbst antreibt. Einen Impuls zu leben, zu lieben. Einen Impuls zu Gott. Es freut mich, was Sie über das Leid und den Rhythmus sagen. In gewisser Weise sind die verschiedenen Rhythmen im Buch das, woran ich hing, wovon ich lebte.
Ich habe sehr hart an der Struktur des Buchs gearbeitet, damit es diese unterschiedlichen Rhythmen tragen könne. Eine Sache, die ich wollte, war es, das Buch zu einem Ort zu machen. Ich begann festzustellen, dass es keinen Ort, keinen bestimmten Ort gibt, an den man gehen kann, wenn man trauern muss. Es gibt keine Plätze für Trauer und Leid in der physischen Umgebung. Ich spürte, dass es all diese unterdrückte und nicht zum Ausdruck gebrachte Trauer in den Menschen gibt, und ich wollte, dass mein Buch ein Begleiter dafür ist, ein Ort, eine Art Wesen, das einen begleitet, wenn es sonst nichts gibt. Theoretisch kann man in die Synagoge oder in die Kirche gehen, oder einen ruhigen Ort zum Verweilen finden, oder sich in die Wohnung zurückziehen, wie wir es gerade alle irgendwie tun, oder es ist das Haus der Großmutter, aber irgendwie ist das ungemäß. Dieses Buch ist zwischen 2012 und 2019 geschrieben und ich fühlte, dass niemand weiß, wohin mit dieser Trauer und dass man nirgendwo hingehen und sie einfach Trauer sein lassen konnte. Deshalb wollte ich, dass das Buch so ein Ort sei. Man denke etwa daran, wie ein Trankopfer in den Sand gegossen wird, wie der Sand es aufsaugt; so aufnehmend sollten meine Gedichte & das Buch als Ganzes sein: ein Ort, an dem man die Last einfach ablegen und sein lassen kann.

LL: Orte, Raum, der Umstand, dass es keinen Platz gibt, an den man tatsächlich gehen kann – das sind wichtige Motive in Ihren Gedichten, und da ist immer die Frage nach dem Körper, der Verkörperung des lyrischen Ichs – das manchmal Ariana heißt –, das zugleich im Körper und außerhalb des Körpers ist, ohne wirklich zu wissen, wo es sich befinden sollte und was diese merkwürdige Art der Anwesenheit und des Bewusstseins und der Innerlichkeit/Äußerlichkeit überhaupt ist. M.E. sind diese Gedichte so sehr in Bewegung, weil sie sich stets an so vielen, manchmal widersprüchlichen Orten zugleich befinden und darüber wiederum reflektieren.

AR: Ich weiß, dass das vielleicht etwas albern klingt, aber mir war es wichtig, dass diese Gedichte genau widerspiegeln, was mit dem Bewusstsein selbst geschieht. Mein Leben auf ständiger Reise; Smartphones; simultan laufende Medien aller Art; das, was weltweit aus Städten wurde; was Sarah Schulman Gentrifizierung des Geistes nennt; die Smartphonisierung des Verstands, wo man sich an so vielen Orten gleichzeitig befindet: auf spiritueller Ebene, auf seelischer Ebene, geistig, körperlich.
All das stieß mir zu als reisender Dichterin mit ausgeprägtem Wandernder-Jude-Komplex, aber es passierte mehr oder weniger uns allen. Und häufig ergab sich daraus nicht etwas Einzelnes, weshalb das Buch so viele verschiedenartige Gedichte enthält. Ich versuchte sehr persönlich zu sein und zugleich so nüchtern und neutral wie möglich – nicht objektiv, weil das nicht möglich ist –, aber mich, in Anknüpfung an Celan, einer Art Bezeugung des Verstands selbst anzunähern, der Sprache selbst, dieser unaussprechlichen Sache, die mit allen passierte. Nicht nur mit mir und meinem Leben, sondern mit dem Geist, dem Körper. Und eigentlich hasse ich es, wenn Leute „der Körper“ sagen, weil das bereits eine Abstraktion ist, im Gegensatz zu „mein Körper“. Aber all das war so persönlich und so unpersönlich. Das ist jetzt der schlechte Versuch, etwas umzuformulieren, was ich in A Partial History sage, dem zweiten Gedicht des Buchs … Ich wollte diese Veränderungen zeigen, die sich so schnell abspielen, dass sie sich bereits vollzogen haben, wenn man sie erst bemerkt. Aber wir haben das alle gemeinsam erlebt, als hätten wir es nicht bereits durchgemacht. Und das Interessante an diesem Gespräch, das wir gerade unter zwei verschiedenen Formen von Ausgangssperre führen, ist, dass wir die Antworten unserer Staaten bzw. Aufenthaltsorte auf dasselbe Phänomen miteinander teilen. Wir sind unterschiedlichen Geschlechts, in unterschiedlichen Körpern, aber die Umstände haben uns gewissermaßen in eine ähnlichere Wirklichkeit gezwungen. Der für mich positivste Aspekt dieser Erfahrung ist, dass ich aufgehört habe, zu rennen. Ich bin nicht mehr ständig am Umherhetzen. Für diesen Teil bin ich dankbar. Ich versuche häufig, bestimmte Erfahrungen aus dem Blickwinkel eines Millennium-Zeitalters der Zukunft zu betrachten, oder der Vergangenheit, oder aus der Perspektive eines anderen Planeten. Auch meine Gedichte betrachte ich so. Es liegt etwas Prismatisches in dem, was mit dem Bewusstsein passiert, und das sollte in die Gedichte einfließen. Jetzt, zu diesem Zeitpunkt, habe ich dieses Prisma vorübergehend zur Seite gelegt. Meine Seele ist in gewisser Weise beruhigt und akzeptiert es, in meinem Körper zu sein und an dem Ort, an dem ich mich befinde, zumindest vorerst.

LL: Auf der anderen Seite existieren diese übersättigenden Aspekte der virtuellen Welt, in der wir leben, weiterhin und sind allgegenwärtig: all diese Information, die unerbittlich in uns sickert wie kleine Sandkörner, den Geist zermahlend, die Seele zermahlend, das Herz zermahlend – all dieser Sprachmüll, Überinformationsmüll, der Dreck der zerstörerischen, toxischen und nutzlosen Aspekte und Funktionen von Sprache und Kommunikation. Es gibt dieses andere berühmte Diktum Adornos, demnach es kein richtiges Leben im falschen gibt: Wie kann Lyrik, die innerhalb der genannten Aspekte arbeitet, die auf sie antwortet und von ihnen ausgeht, wie kann sie sich an einem anderen Platz befinden, etwas anderes sein? Wo ist die wahrhaftige Sprache innerhalb des Drecks?

AR: Es gibt viel Sprachmüll, das stimmt, und es gibt schlicht und einfach viel Dreck, der die ganze Zeit in alle Körperöffnungen dringt. Dennoch ist es leichter möglich, ihn während der Quarantäne zu organisieren und bewusst mit ihm umzugehen, denken Sie nicht? Die Poesie ist immer mit einem gewissen Grad an Lüge und Spiel in Verbindung gebracht worden, natürlich verbannt Platon die Dichter, weil wir lügen, und das ist Teil unseres Privilegs, Dinge zu erfinden, mit der Realität zu spielen, aber was den Dreck betrifft, den wir erlitten haben – Celan hat tatsächlich als erster unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, was eine moralische Katastrophe der Sprache antut, er hat gezeigt, wie das Deutsche zu Dreck gemacht worden war, zu mörderischem Müll, zu Lügen. Wörter hatten keinen Wert und keine Bedeutung mehr, aufgrund dessen, was ihnen angetan und was mit ihnen getan worden war, und er bezeugte das. Was nun meinen eigenen Sprachgebrauch anbetrifft: Mein erstes Buch entstammt der Zeit der George-W.-Bush-Regierung – ich dachte damals, das seien schlechte Zeiten. Zu der Zeit erschien es mir, als würde Bedeutung zerstört, dass die Wirklichkeit selbst der Bedeutung feindlich gegenüberstand und ich fühlte mich buchstäblich, als bekäme ich keine Luft, als würde ich ersticken, wenn ich nicht für mich selbst eine Art Gerechtigkeit und Schönheit innerhalb der Sprache schaffte, innerhalb meiner Empfindung von Grauen und Verzweiflung. Jetzt mutet diese Zeit beinahe lieblich und unschuldig an im Vergleich dazu, was unsere Regierung derzeit sagt und tut. Aber die Jahre nach dem 11. September, Massenvernichtungswaffen, der Krieg gegen den Terror, diese Art wirklich satanischen Sprachmülls, und die Gewalt, die der Bedeutung angetan worden war – all das war so überwältigend, dass ich schwöre, es fühlte sich so an, als würde der eigene Verstand zerstört, als müsste man herausfinden, wie es möglich ist, weiter zu denken, während Ätzmittel regsam das Gehirn zersetzen. Und jetzt, wo wir mit etwas Abstand darauf blicken können, sehen wir, dass wenn Obrigkeiten die Bedeutung der Dinge tatkräftig angreifen, dass das Menschen nicht nur durch Politik versehrt, es fickt ihren Verstand. Wenn man der Wahrheit Gewalt antut, versehrt es Menschen auf alle möglichen Arten.
Dennoch war es für mich im Bezug auf das lyrische Schaffen wirklich interessant – ich wünschte, ich wäre eine bessere Nachahmerin der unterschiedlichen Stimmen der Menschen. Ich hege große Bewunderung für Autoren, die gut einfangen, wie verschiedene Personen klingen. Etwas, das ich an Dichtung für wesentlich halte, und nicht jeder wird mir da zustimmen, ist, dass Dichtung, wie ich sie empfinde und verstehe, sich am Schnittpunkt von Gesprochenem und Geschriebenem befindet. Genau dort muss sie stattfinden, wie dieses X [sie formt ein X mit den Armen]. Ich mag es nicht, wenn Lyrik sich zu sehr um den Text und die Oberfläche dreht, dann ist sie zu weit von der Wirklichkeit entfernt. Wenn sie hingegen nur den Twitterfeed abbildet, ist sie zu einseitig. Dieser verrückte Raum, an dem tatsächlich etwas Magisches existiert, liegt am Schnittpunkt. Das geht meines Erachtens zurück bis zu Chaucer. Oder sogar Platon. Oder bis zur Bibel, wo Rede und Schrift zusammenlaufen. Und Chaucer war dieser Autor, der es liebte, wie die Menschen reden. Für uns im Englischen ist er der Erfinder dieses verblüffenden epischen Gedichts voller glaubwürdiger Figuren, und dieser großartigen Geschichte, in der all diese verschiedenen Charaktere Geschichten erzählen, um sich die Zeit zu vertreiben. Und nicht alle von ihnen sind gute Menschen, sie sind meist auf verschiedene Art lächerlich. Aber es liegt so viel Liebe und Interesse darin, wie sie klingen. Viele von ihnen sind auch Schwätzer. Ein guter Schwätzer hat was. Hier sind wir also, inmitten eines Haufens Drecks, vor allem auf Staatsebene, da gibt es mörderischen Dreck – so wie „Au ja, Ihr solltet Euch verdammtes Chlor spritzen“. Es gibt diesen poetischen Raum, über den wir gesprochen haben, eine Art von Sprache, die uns über den Dreck hinausträgt. Dennoch haben Sie vorhin gesagt, dass Ihnen allzu Transzendentales widerstrebt, und deshalb halte ich dieses X für so wichtig. Wenn man nur transzendental ist, dann ist es eine Flucht – ich liebe Eskapismus, aber das ist nur ein Bereich, in dem man sich befindet. Man versucht nur, all diesem dreckigen, grausigen Müll zu entkommen. Tatsächlich aber gibt es auch etwas Interessantes am Müll, und ich habe mich immer mit dieser Weise identifiziert, mit dem Müll zu arbeiten. Ob es die alchimistische Tradition ist, Tierschlachtung, all die verschiedenen Arten von Räumen, die ich in meinen Büchern beleuchte. Das wird normalerweise ein bisschen vernachlässigt oder als unwichtig erachtet. Und ich hatte den Eindruck, dass es sich mit der Poesie ebenso verhält. Meines Erachtens gibt es sehr gute Gründe dafür, dass sie derzeit weltweit an Wichtigkeit gewinnt, denn die Zeiten werden schlimmer und Menschen, die Poesie lieben, verstehen, dass sie sehr kraftvoll sein und dass man sich in schlechten Zeiten auf sie verlassen kann, wenn man sich auf sonst nichts mehr verlassen kann. Auch deshalb gewinnt sie an Wertschätzung, auch bei sehr jungen Menschen. Es gibt eine rätselhafte Magie, wenn man durch diesen Müll hindurchhört und horcht, was wirklich gesagt wird, das ist so heilsam und belebend. Und wir wissen alle, wie sich das anfühlt: Es ist so nah am Nichts, dass es fast nichts ist, und dennoch, wenn man hört, wie jemand an das Wahre rührt, hat es heilende Kraft, und das kann man nicht genau voraussagen. Es kommt irgendwie aus diesem Dreck heraus. Aber wir alle wissen, wie es sich anfühlt, wenn es endlich jemand sagt. Und der Bauch sagt einfach: „Danke, das war Medizin!“

LL: In diesem Sinne: Danke! Denn das habe ich beim Lesen Ihres Buches mehrfach empfunden.

AR: Dürfte ich noch etwas Persönliches hinzufügen, von dem mir viel bedeuten würde, es mit einem Publikum in Deutschland zu teilen: Einer der Gründe, weshalb ich mich so auf dieses Festival gefreut hatte, ist, dass meine Großmutter am Ende des Kriegs in Berlin von den Russen befreit worden ist. Sie war eine Jüdin aus Łódź in Polen, und nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto wurde ihr Ehemann nach Treblinka in den Tod geschickt. Sie verlor beide Eltern, zwei Geschwister, ihre Schwägerin und einen jungen Neffen. Vor seinem Tod hatte ihr Mann eine falsche Identität gekauft, die es ihr ermöglichte, zu überleben, indem sie sich als katholische Polin ausgab. Am Ende des Kriegs arbeitete sie in einer Munitionsfabrik. Nach der Befreiung lief sie zu Fuß mit zwei Freundinnen, die sie in der Fabrik kennengelernt hatte, von Berlin nach Brüssel – auf dem Weg schliefen sie in Viehwagen –, wo sie in ein DP-Lager (In den Lagern für Displaced Persons -Personen, die nicht am betreffenden Ort beheimatet sind- wurden von den Alliierten Zivilpersonen untergebracht und versorgt, die sich kriegsbedingt fern von ihrem Heimatort befanden) kamen, und dort lernte sie meinen Großvater kennen. Ich möchte also kurz diesen Teil meiner Familiengeschichte würdigen, und die psychische Krankheit meiner Mutter, die ebenso Vermächtnis der Erfahrung des Genozids in meiner Familie ist wie meine Lyrik. Ich weiß, dass es meiner Großmutter viel bedeutet hätte, zu wissen, dass ich nach Deutschland eingeladen worden bin, um meine Gedichte dort zu teilen und dass diese ins Deutsche übersetzt worden sind. Auch mir bedeutet es viel, viel mehr, als ich sagen kann.

Die Originalversion des Poesiegespräches auf Englisch finden Sie auf der Englischen Seite.